Wer spricht!?

nils' Teil unserer populären FIREWALL!-Edition mit Kurzgeschichten. Sehr populär, also könnte es fast gut sein! =O) Überzeuge Dich einfach selbst!Gesamtauflage der Print-Ausgabe: etwa 100 Stück

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Wer spricht!?

Beitragvon admin » 02.12.2003, 00:35

Ich hatte kein grundsätzliches Problem mit meinem Anrufbeantworter. Im Gegenteil: Er übernahm die mir peinliche Aufgabe der Unterhaltung mit meiner tapferen Zimmerpflanze. Genauer gesagt übernahmen das die Anrufer, d.h. die Anrufer, die nicht gleich wieder auflegten, wenn mein Telefonsklave abnahm, was eigentlich immer sehr wenige waren.
Vor einigen Wochen hörte ich, als ich Abends nach Hause kam, den Anrufbeantworter ab. Eine mir unbekannte Stimme begrüßte mich mit: "Ich bin´s!" - Das ist nicht neu. Jeder Anrufer, vor allem Unbekannten und Leute, die sich verwählt haben, behaupten sie selbstzu sein. - "Dies ist ein Kettenanruf! Wenn du nicht innerhalb von 48 Stunden fünf Freunde angerufen hast, wird großes Unglück über dich kommen. Leitest du diese Nachricht aber weiter, so wirst du immer Glück haben! Rufe auch noch den Erstgenannten auf folgender Liste an. Seine Nummer gibst du nicht mehr weiter, dafür fügst du deine eigene hinten an. Viele nette Leute werden dich dann in nächster Zeit anrufen!"
Sowas war mir noch nie passiert. Normalen Kettenbriefen bin ich immer ausgewichen, indem ich sie unter dem Photokopiergerät im Supermarkt liegenließ. - Ohne dafür zu bezahlen, natürlich!
Die Verbreitung von dort scheint geklappt zu haben, jedenfalls bin ich noch nicht mit Pech überhäuft worden.
Ich zähle mich nicht zu den abergläubischen Menschen, aber man muß ja auf alles gefaßt sein...
Mit einem Kettenanruf hatte ich es allerdings noch nie zu tun. Ich lief in meinem Zimmer auf und ab und überlegte, was zu tun sei.
"Das ist doch alles nicht ernstzunehmen", diskutierte ich mit mir selbst. "Du wirst dich doch nicht diesem Aberglauben hingeben. Aberglaube ist etwas für Kinder." -Ich ermunterte mich selbst noch ein wenig länger und setzte mich dann beruhigt aufs Sofa und sah etwas fern.
Zehn Minuten später rief ich bei einigen Freunden an und erzählte ihnen von dem Brief. Wir lachten alle über die lustige Idee dieses Kettenanrufs, und dann mußte ich, bei allen fünf Anrufern, noch einen Moment warten, bis sie was zum Schreiben geholt hatten, um die idiotischen Nummern, die am Ende meines Kettenanrufs waren, mitzuschreiben. Natürlich ließ ich die erste Nummer weg und fügte meine eigene hinzu. Warum auch nicht?
Später rief ich, nur aus Neugier, die erste Nummer auf der Liste an. Mittlerweile schien ein Blitz in einem Telefonkabel eingeschlagen zu haben, denn es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich eine Verbindung bekam, und dann war auch noch besetzt. Einmal, nach geschlagenen drei Stunden des versuchens hatte ich Glück, so dachte ich. Ich hörte ein Freizeichen. Nach einiger Zeit nahm jemand ab und brüllte für einige Sekunden hysterisch Obszönitäten in die Leitung, bevor er den Hörer wieder aufschmiß.
Ich war etwas verwundert, beschloß dann aber doch, es nicht weiter zu versuchen. Zufrieden damit, daß ich nicht dem primitiven Drang nachgegeben habe, die Forderungen des Kettenanrufs zu erfüllen, schaltete ich das Telefon ab und ging zu Bett.

Am nächsten Morgen stand ich ausgeruht auf und schlenderte in die Küche um Kaffee zu kochen. In der Küche erwartete mich ein Bild des Grauens: Das Spülbecken war voller Wasser und darin lag... - mein Anrufbeantworter.
Ich weiß nicht, was heute Nacht passierte, aber er hatte offensichtlich den Freitod gewählt. Traurig barg ich seine Überreste. Es schien ein brutaler Tod gewesen zu sein: Die Telefonschnur hatte sich um seinen flachen schwarzen Körper gewickelt. Mit viel Mühe barg ich das Band aus der toten Maschine und legte es in meinen Kassettenrecorder ein. Was ich hörte war, daß der Anrufbeantworter wahrscheinlich die ganze Nacht nicht zur Ruhe gekommen ist: Lauter leichtgläubige Idioten hatten angerufen und so getan, als reagierten sie nicht auf den Kettenanruf, den sie erhalten hatten - Es war erschütternd, so viele Zeugnisse von Selbstbetrug auf Band zu haben.
Ich begab mich zu meinem Telefon und stellte die Klingel wieder an. Es begann sofort ohrenbetäubend zu läuten. Verstört, weil ich Störungen vor meinem ersten Kaffee am Morgen immer sehr skeptisch gegenüberstehe, nahm ich den Hörer ab. Eine Stimme, die von weit her zu kommen schien, meldete sich hysterisch:
"Na endlich, Mann! Was machst du die ganze Nacht!?" - "Schlafen", behauptete ich kühn.
"Ah!" - Der Anrufer heuchelte Verständnis. "Nun ja, ich rufe nur mal so an, nicht etwa wegen eines Kettenanrufs..."
"Schon klar", log ich, "wer ist überhaupt dran?"
"Meyer! Dein Nachbar!"
Ich zog die Vorhänge beiseite. Da stand er, am Fenster gegenüber. Ich winkte.
"Du siehst etwas mitgenommen aus, Herr Meyer!"
"Ist das ein Wunder? Die Nachrichten geben es schon durch: Irgend jemand hat diesen blöden Scherz, diesen Kettenanruf, tatsächlich weitergeleitet, und zwar gestern abend!" - Ich schluckte. - "Seitdem stehen die Telefone im ganzen Land nicht mehr still. Es ist ein Wunder, wenn man tatsächlich eine freie Leitung erwischt! Was meinst du, warum meine Stimme klingt, als rufe ich aus dem Ausland an? - Der Draht ist total überlastet!"
Gerade wollte ich eine Rechtfertigung versuchen, als die Verbindung jäh unterbrochen wurde. Ein leises elektrostatisches Pfeifen war alles, was noch zu hören war. Ich legte auf und begann kopfschüttelnd damit, mein Frühstück vorzubereiten, nicht wissend, daß dies einer der letzten Telefonanrufe war, die auf diesem Planeten geführt wurden.

Es kam alles sehr plötzlich: Im Kernkraftwerk gab es einen kleinen Störfall. Eigentlich nichts beunruhigendes, es erforderte nur die Anwesenheit des Servicetechnikers, damit der die Kühlwassertemperatur per Hand reguliert. Unglücklicherweise war der aber mit seiner Frau einkaufen und konnte nicht über sein Mobilfunktelefon erreicht werden, da alle Telefonnetze des Planeten mittlerweile zusammengebrochen waren.
Der Servicetechniker hätte noch Zeit gehabt, es zu bereuen, daß er sich diesen Nachmittag im Kernkraftwerk freigenommen hatte, ungünstigerweise nutzte er die letzte verbliebene Gelegenheit, die er dazu hatte, dafür, seine Einkäufe auf das Band an der Kasse zu stellen und schaffte nur noch einem bemerkenswert blöden Gesichtsausdruck, als die Druckwelle der Explosion des AKWs das Einkaufszentrum zerstörte.


Seit dem ist vieles anders geworden auf diesem Planeten. Eine globale Katastrophe jagte die andere und niemand war bisher telefonisch zu erreichen, um eine von ihnen vielleicht zu verhindern.
... Kettenanrufe funktionieren nun einmal nach dem Schneeballprinzip - kein Wunder, daß alle Leitungen besetzt waren.

Ich habe Glück, ich bin noch recht glimpflich davongekommen. Meine Wohnung ist zwar geplündert, aber ich habe immer noch einige Vorräte im Keller versteckt.
Meine Freunde wollen, wie fast alle Menschen, nichts mehr mit mir zu tun haben, was wohl nicht zuletzt an diesem ungerechten Enthüllungsartikel in der allerletzten Ausgabe eines großen Nachrichtenmagazins liegt, das mich für die ganze Misere verantwortlich machte. Ich sehe das natürlich etwas anders, aber in der Welt, wie sie jetzt ist, interessiert es die letzten paar Überlebenden eigentlich auch nicht mehr.
Eins ist klar: Sowas wird nie wieder passieren! - Wie auch? Es gibt keine Telefon- oder Funkverbindungen mehr und fast alles Papier ist vernichtet... - Die Menschheit hat sich vorerst vor sich selber gerettet. Alles wird wieder gut werden, da bin ich mir sicher, und ich sage das auch nicht nur, um die Jungs im Space-Shuttle zu beruhigen, die so lang nichts von uns hier unten gehört haben...

Gestern Abend fand ich eine Steinplatte, die an meiner Tür lehnte. Als ich sie untersuchte, stellte ich fest, daß etwas hinein geritzt war: Es handelte sich um einen Kettenbrief!

Ich werde ihn natürlich nicht fortsetzen, ich bin ja schließlich nicht abergläubig...

© zAphod / h.l.v.s.-prod. mcmxcvii

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