Weihnachten riecht alles nach Zimt!

nils' Teil unserer populären FIREWALL!-Edition mit Kurzgeschichten. Sehr populär, also könnte es fast gut sein! =O) Überzeuge Dich einfach selbst!Gesamtauflage der Print-Ausgabe: etwa 100 Stück

Moderatoren: admin, twoflower, nils

Benutzeravatar
admin
Administrator
Beiträge: 197
Registriert: 01.12.2003, 01:39
Kontaktdaten:

Weihnachten riecht alles nach Zimt!

Beitragvon admin » 02.12.2003, 00:41

Joe mochte Weihnachten nicht. Es war jetzt schon der dritte Heiligabend in Folge, an dem er arbeiten mußte.
Er fuhr nicht hauptberuflich Taxi. Damals, als sie einen Kredit für den Hauskauf aufgenommen hatten, da mußte er neben seinem eigentlichen Beruf, er arbeitete in dem Archiv des Völkerkundemuseums, noch Taxi fahren, um die Kinder durchfüttern zu können.
Das Haus war nun schon lange abbezahlt, die Kinder waren keine Kinder mehr, sondern hatten jetzt selber welche und wohnten in einer Stadt am anderen Ende des Landes, aber Joe fuhr immer noch Taxi. Er hatte das Geld nicht mehr so nötig wie früher, es war eigentlich mehr eine Art Hobby, unangenehmerweise eines, welches auch mit Pflichten verbunden war. Lene, das war seine Frau, war überhaupt nicht glücklich damit. "Du weißt doch, die Kinder werden kommen! - Alle werden sie da sein, nur du bist wieder mal auf Achse."
Joe hätte alles gegeben, den heutigen Abend im Kreise seiner Familie zu verbringen, statt dessen saß er jetzt, am Heiligabend um halb sieben, auf der Autobahn in einem Schneesturm fest.
Er sah sich seinen Fahrgast im Rückspiegel etwas genauer an. Die Frau war noch sehr jung und trotzdem schon sehr schwanger. Joes Meinung nach war sie zu jung, um schon ein Kind zu haben, obwohl... Joe überlegte. Lene und er hatten ihr erstes Kind mit 17 Jahren bekommen. Er verwarf den Gedanken. Das waren damals einfach solidere Zeiten.
Die Frau hatte lange, dunkle schwarze Haare, die einen passenden Rahmen um ihr würdevoll, aber traurig-blickendes Gesicht bildeten. Nur wenn sie auf ihren dicken Bauch heruntersah, welchen sie die ganze Zeit über sanft streichelte, wurden ihre Züge etwas weicher.
Obwohl es nicht Joes Art war, beschloß er, die Frau anzusprechen.
"Es sieht wohl so aus, als könnte das hier eine lange Nacht werden, junge Frau", sagte Joe. Er haßte wenig mehr als Smalltalk mit Fahrgästen, aber ein Blick aus dem Fenster hatte ihm klargemacht, daß die Nacht tatsächlich sehr lang werden würde. Vor ihnen führte die Straße ein ganzes Stück bergauf und durch das Schneetreiben hindurch konnte er beobachten, daß der Verkehr sich kaum bewegte.
Joes´ Passagierin schien von weit weg zurück in ihren Körper zu reisen, als ihr Blick, der ziellos in die Ferne gerichtet war, langsam wieder fester wurde und an Joe hängenblieb, bevor er kurz über die Umgebung strich und dann wieder zu Joe zurückkehrte.
"Ja", antwortete sie mit fester Stimme. Sie musterte sein Gesicht im Rückspiegel. "Marie", sagte sie.
"Joe", sagte Joe. Sie gaben sich feierlich die Hand. Dann konnte Joe zehn Meter weiterfahren, bevor der Verkehr wieder zum Stillstand kam.

"...Und so wie es aussieht, werde ich in der nächsten Zeit wohl auch nicht in die Nähe meines Hauses kommen", beendete Joe seine Ausführung. In den letzten zwei Stunden waren sie höchstens 500 Meter vorangekommen. Nur noch wenige Meter trennten sie vom höchsten Punkt der Autobahn, der Blick in ein neues Tal, welches dann vor ihnen läge, stand bevor - soweit es das Schneetreiben zuließe.
In den letzten zwei Stunden waren sie einander etwas näher gekommen. Marie war sehr interessiert und eine gute Zuhörerin. Sie hörte die ganze Zeit mit glänzenden Augen zu, wie Joe aus seinem Leben erzählte. Joe hatte den Eindruck, daß der Glanz in ihren Augen nicht einfach nur daher rührte, daß er so ein phantastischer Erzähler war. Er bemerkte jetzt zum ersten mal, wie glücklich und harmonisch sein Leben eigentlich verlaufen war, allemal im Verhältnis zu dem Leben, das viele andere Menschen führten.
Wieder konnte Joe einige Meter vorfahren. Jetzt konnten sie in das neue Tal hineinsehen. Zwischen den Schneeflocken hindurch wand sich die Autobahn wie ein aus roten und weißen Lichtpunkten geflochtenes Band hindurch. Außer den Lichtern der Autos war nicht viel anderes Licht in der Dunkelheit auszumachen und außerdem schien sich keines der Autos vorwärts zu bewegen. Joe nahm ein gelbes Blinken in seinem Rückspiegel war. Die Straßenwacht quälte sich langsam mit mehreren Bussen über den Standstreifen vorwärts. Einige Beamte liefen von Auto zu Auto und sprachen mit den Fahrern. Diese stellten allesamt ihre Motoren ab, löschten die Lichter ihrer Autos, stapften hinaus in den Schnee und stiegen in einen der Busse um. Einer der Arbeiter klopfte an Joes Scheibe.
"Die Autobahn ist aufgrund einer Massenkarambolage vollständig gesperrt. Heute Nacht wird es auf keinen Fall weiter vorwärts gehen. Bitte steigen sie in einen der Busse um, wir bringen sie in einer Raststätte in der Nähe über Nacht unter", ratterte der Mann seinen Text runter, den er diesen Abend wohl schon zu häufig wiederholt hatte und der durch seine Routine mittlerweile auch jeden Widerspruch unterdrückte. Der Mann leuchtete den Innenraum des Taxis kurz ab und blieb mit dem suchenden Lichtkegel seiner Lampe an Maries Bauch hängen. Seine Züge entspannten sich kurz. "Frohe Weihnachten wünsche ich ihnen!"
Joe half Marie aus dem Auto und gemeinsam gingen sie dann zum wartenden Bus. Als sie endlich dort angekommen waren, beobachteten sie, wie die Autobahn vor ihnen langsam dunkler wurde, als ein Auto nach dem anderen Motor und Licht abschaltete. Eine unheimliche Feierlichkeit machte sich breit, während der Bus langsam durch die dunkle Nacht in Richtung der Raststätte fuhr.

Phil, Verderben und PS rasten auf ihren Motorrädern durch die Nacht. Sie hatten sich spontan für den Standstreifen als optimale Strecke auf der Autobahn entschieden. Hier war zwar kein Schnee geräumt worden, dafür standen hier weniger Autos rum. Sie hatten kein Radio auf ihrem Motorrad und hatten den einzigen Bus der Straßenwacht, der ihnen unterwegs begegnet war, mit lautem Motorengeheule überholt.
Jetzt wunderten sie sich nur noch, warum die Autobahn mit einem Mal zu einem gigantischen Parkplatz geworden war. Darüber reden konnten sie nicht, da sie komplett in nietenbesetzte Ledermontur und Helm verpackt waren um dem eisigen Fahrtwind keine Angriffsmöglichkeit zu bieten. Sie waren Biker der härtesten Art und so ein bißchen Winter würde sie nicht von ihren Böcken zwingen. Das dachten sie zumindest so lange, bis eine Schneeverwehung auf dem Standstreifen sie eines Besseren belehrte.
Auf wackeligen Beinen standen sie nach dem Sturz beisammen und sahen sich die Reste ihrer einstmals so prächtigen Motorräder an. Wie durch ein Wunder waren sie unverletzt.
"Was jetzt", wollte Verderben wissen.
"Wir sollten zu Fuß weiter, bevor wir hier noch erfrieren", schlug Phil vor, "und zwar zügig, wir Schwarzen sind die Kälte nicht so gewohnt wie ihr."
"Macht, was ihr wollt, aber ich nehme mir zumindest noch ein Souvenir meiner Maschine mit", meinte PS und nahm seinen noch fast intakten, verchromten Lenker aus den Trümmern seiner Maschine und machte sich auf den Weg. Verderben und Phil sahen sich an, zuckten mit den Schultern und nahmen sich ebenfalls ein Wrackteil, bevor sie PS folgten.

Die Raststätte war voller Menschen, voller Lärm und voller schlechter Luft. Mit der Ankunft einer neuen Busladung voller Menschen wurde die Atmosphäre nicht eben entspannter, vielmehr sahen sich nun alle dazu veranlaßt, noch lauter zu diskutieren, ob die Raststätte wohl ein angemessener Ort wäre, um Weihnachten zu feiern.
Joe schaffte es, Marie einen Sitzplatz zu verschaffen und verschwand kurz um dann einige Minuten später mit zwei dampfenden Tassen heißem Kaffee zurückzukehren.
Marie nahm die Tasse dankbar entgegen und nippte kurz, bevor sie die Tasse eilig abstellte um sich ihren Bauch zu halten.
"Wann soll ihr Kind denn geboren werden", fragte Joe, der sich langsam Gedanken machte. Schon im Bus hatte Marie sich öfter den Bauch gehalten.
"Ehrlich gesagt..."- Marie hatte etwas Mühe zu sprechen - "heute", preßte sie dann doch heraus. Mittlerweile stand ihr schon Schweiß auf der Stirn. Joe wurde etwas nervös.
"Mädchen, warum machst du dich dann an deinem Stichtag unbedingt in meinem Taxi auf den Weg in ein Schneetreiben?"
Marie lächelte etwas gequält: "Meine Eltern sollten erfahren, daß ich schwanger bin..."
"Das fällt dir also schon nach neun Monaten ein, ja?"
"Ich hoffte auf weihnachtliche Milde", gestand Marie. Die Vehen wurden schneller, genau wie Joes Blutdruck.

Als Taxifahrer ist man darauf angewiesen, sehr viel Sekundärliteratur zu seinem Beruf zu lesen. Für alle Eventualitäten muß man gerüstet sein. Joe hatte zwei eigene Kinder und fünf Enkelkinder und er war bei der Geburt seines jüngsten Enkelkinds sogar dabei gewesen und hatte vorher viele Bücher darüber gelesen. Er wollte einfach nicht unvorbereitet sein, wenn eine Frau beschlösse, bei ihm im Taxi zu entbinden. Für kurze Zeit hatte er möglichst unauffällig versucht, in der überfüllten Raststätte einen Arzt ausfindig zu machen. Es gab zwar zwei Nuklearforscher, aber nicht einen Mediziner unter den Leuten, die hier versammelt waren. Er nahm die Sache also selbst in die Hand. Flugs hatte er dem total überforderten Personal der Raststätte heißes Wasser und einen großen Beutel Papierservietten abringen können und machte sich nun an die Geburtsvorbereitungen. Marie lag in einer Ecke des Lokals in der sie kaum wahrgenommen wurde. Ihre Vehen kamen nun immer häufiger.

"...Und wir liefen weg. Dann wurde ich schwanger."
Joe tropfte nun ebenfalls der Schweiß von der Stirn. Er hoffte, als Gynäkologe ein Naturtalent zu sein und das schon sein erster Versuch als Geburtshelfer von Erfolg gekrönt sein würde.
"Und jetzt zu Weihnachten möchtest du in den Schoß der Familie zurückkehren?"
Marie nickte mit schmerzverzerrtem Gesicht.
"Wo ist dein Freund?"
Marie lachte kurz und bitter. "Bei seinen Eltern? Ich weiß es nicht. Die Beziehung hielt nicht lange. Wir gehen eigene Wege."
Das war nicht Joes Welt. Er versuchte nicht weiter darüber nachzudenken und sich mehr auf die Geburt zu konzentrieren. Es konnte jeden Augenblick losgehen. "Deine Eltern würden sich bestimmt freuen", sagte er gedankenverloren.
Marie lächelte ihn dankbar an, dann setzte die Geburt ein.

Phil, Verderben und PS froren. Sie waren nun schon eine Stunde stramm gegen Wind und Schneetreiben anmarschiert, ohne, daß sie irgendein Anzeichen von Zivilisation entdecken konnten, als endlich eine Verbesserung ihrer Situation in Sicht war: Ein Fahrzeug der Straßenwacht kam vorbei und nahm sie mit zu einer Raststätte, die als Notunterkunft für die Nacht hergerichtet worden war. Dankbar stiegen die drei in das beheizte Auto ein.

Die Raststätte war voll und laut, als wäre nichts passiert. Dabei war sehr viel geschehen: Marie hatte ihr erstes Kind auf dem Arm. Mutter und Kind ging es prächtig, nur der Geburtshelfer war noch etwas mitgenommen. Er war den Anblick von soviel Blut nicht gewöhnt. Eine Familie, die die beiden die ganze Geburt über beobachtet hatte, fing nun an das Geschehene lauthals zu kommentieren.
"Das war bestimmt nicht einfach für den armen Mann, was, Liebes", fragte er seine Frau, die aussah wie eine dicke Kuh, was nicht zuletzt an ihrer schwarzbunten Ballonjacke lag, die sie trug.
"Du bist ein Esel, mein lieber Gatte! Denk doch lieber mal an die arme Frau!"
Ihre Kinder, drei an der Zahl, blökten zufrieden. Sie mochten es, wenn ihre Eltern mal nicht mit ihnen schimpften.

"Ich danke dir, Joe!"- Marie blickte kurz von ihrem Kind auf, warf Joe ein Lächeln zu, um sich dann wieder dem Kind zu widmen.
"Gern geschehen. Etwas Ruhe würde uns jetzt aber sicher gut tun, was?" - Die Farbe war nur teilweise schon wieder in sein Gesicht zurückgekehrt.
Die Tür wurde aufgestoßen und drei vermummte Gestalten in nietenbesetzter Ledermontur betraten die Raststätte. Joes Wunsch wurde erhört. Augenblicklich verstummten alle Gespräche in der Raststätte. Alle sahen die Neuankömmlinge an. Diese nahmen jetzt ihre Helme ab und blickten bedrohlich in die Runde. Alle hielten sie bedrohlich wirkende Motorrad-Einzelteile in ihren Händen. Dann fielen ihre Augen auf Marie, Joe und das Kind. Sie blickten überrascht auf, verständigten sich kurz untereinander mit Blicken, bevor sie mit weiten Schritten den Raum durchsteuerten und vor Marie stehenblieben. Die Stille war immer noch greifbar, als die drei Biker sich bückten und die Motorradteile Marie und dem Kind zu Füßen legten.
"Ist hier eigentlich noch jemand im Raum, der dies alles für eine Krippenszene hält", fragte Verderben laut in den Raum. Alle schwiegen.
Einige Zeit später räusperte sich Joe, und sprach dann leise: "Es gibt da einen wichtigen Unterschied: Marie hat eine Tochter geboren!"

Ein heller Stern schien an diesem Abend über der eingeschneiten Raststätte.

--- Ende

(c) by zAphod / h.l.v.s. in 1996

Zurück zu „Mindsweeper v1.0“

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 1 Gast