Weiße Weihnacht 1998

Der Name sagt alles! - Hier gibt es das Neueste vom Neuen aus unserer Feder, wenn es auch alles noch aus dem letzten Jahrtausend ist... - Die jüngsten Kinder sind häufig genug auch des Schriftstellers liebste, weil beste, also: Enjoy!

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Weiße Weihnacht 1998

Beitragvon admin » 02.12.2003, 01:03

Wütend knallte Ella ihre Tasche in die Ecke und warf sich auf die Liege im Krankenwagen. Einen kurzen Moment krallte sie sich im Laken fest, dann entspannte sich ihr Gesicht wieder und die Wut wich einer tiefen Traurigkeit.
"Und dann brüllte er die Kinder an! - Er schrie, wie von Sinnen, daß es gar keinen Weihnachtsmann gäbe, und sie sich nichts vormachen sollten, und ob ihnen nicht schon mal aufgefallen sei, daß Weihnachtsmänner aller Größen, Formen und Farben durch die Stadt liefen! Sie sollten doch einfach mal mitzählen, dann würde ihnen schon auffallen, daß Weihnachten nur ein Witz der Werbeindustrie sei... Er redete so schnell auf die Kleinen ein, daß er ihnen den Glauben an Weihnachten schon fast ausgetrieben hatte, als ich zufällig vorbeikam und eiligst versuchte zu retten, was noch zu retten war..."
"-", setzte Hannes an...
"Ich verbrachte also die halbe Nacht damit, meine Kleine soweit aufzurichten, daß sie wieder etwas Mut faßte", erklärte Ella weiter. Sie wollte sich nicht wirklich unterhalten, merkte Hannes, sie wollte nur fluchen. - "Und dann lauert er mir auch noch im Treppenhaus auf! Er pirschte sich von hinten an, und erst als er direkt hinter mir stand, brüllte er aus Leibeskräften 'Weihnachten ist ein einziger Betrug - das wissen sie doch genau!! Sie betrügen ihre Tochter doch nur!'"
"-", versuchte Hannes einzuwenden, kam aber nicht dazu.
"Alle Kinder des Hauses haben sein Geschrei gehört! Alle! Das ist so ungerecht!" - Sie wirbelte auf der Liege herum und sah ihn mit wütend funkelnden Augen an. "Du hättest das Weinen der Kinder im Treppenhaus hören sollen.. Es war schrecklich. Dieser gemeine Kerl"
Hannes sah sie jetzt schweigend an. Er war schon lange im Rettungsdienst beschäftigt, und hatte gelernt zu warten.
"Warum sagst du nichts, he? Dich trifft diese Herzlosigkeit wohl gar nicht, was? Willst du dieses Monster am Ende noch in Schutz nehmen, ja?"
Ihr Kollege warf seine ganzen 100 Kilo in die Waagschale der Überzeugung und erklärte: "Hör mal! - Du kommst hier reingestürmt, führst dich auf, wie eine Verrückte, läßt mich nicht zu Wort kommen, und wirfst mir das dann auch noch vor? So nicht, junge Frau!"
Ella biß sich auf die Unterlippe und sah schuldbewußt und mit großen Augen zu ihm auf. Ihr Kollege hielt kurz inne und ließ dann ein dröhnendes Lachen hören.
"Hör sofort auf damit! - Du weißt, daß du mich in der Hand hast, wenn Du so guckst!"
Sie lächelte gequält.
"Tut mir leid, daß ich das an Dir ausgelassen habe... - Dieser Bastard hat mich so wütend gemacht, ich mußte das einfach loswerden."
Hannes setzte sich neben sie und legte ihr seine große Hand auf die Schulter.
"Mach Dir nicht zuviel Gedanken! Die Kleine wird bestimmt ein schönes Weihnachtsfest haben... - Den Geist von Weihnachten können alte, verbitterte Männer nicht aufhalten."

Der alte, verbitterte Mann schlich gerade wütend durch die Stadt.
Herr Karmann, das war sein Name, hatte an diesem Nachmittag schon drei Weihnachtsmännern die Bärte heruntergerissen. Das war sein eigener, kleiner Feldzug. Er wollte verhindern, daß Kinder auf dieses falsche Spiel hereinfielen.
Er blieb vor einem Karussell stehen und betrachtete die Kinder, die dort glücklich lachend auf Feuerwehrautos und Schwänen ihre runden machten
Es ist nicht gerecht, dachte er. Sie sollten nicht so enttäuscht werden. Weihnachten war falsch. Herr Karmann wußte das. Er hatte es lernen müssen, auf die harte Tour. Wenn er es verhindern könnte, dann würde niemand mehr falschen Hoffnungen zum Opfer fallen.
Eine Glocke ertönte.
Oh, nein! Sie tun es doch nicht schon wieder, oder?
Der alte Mann war sofort alarmiert. Wenn das wieder einer dieser widerlichen Werbesklaven wäre, dann würde er ihm die Tour schon ordentlich vermiesen!
Er machte sich auf, seinen Kreuzzug fortzusetzen.

Ella und Hannes saßen im Bereitschaftszimmer und tranken genüßlich ihren Kaffee.
Der Nachmittag war bisher sehr ruhig geblieben - für den Heiligabend nicht sehr ungewöhnlich. Erst später am Abend verletzten sich viele Leute beim Gänsezerlegen an ihrem Tranchiermesser, holten sich Verbrennungen durch ihren Weihnachtsbaum oder fuhren sturztrunken gegen einen Baum, der sich geweigert hatte, ihnen auszuweichen.
Bis dahin plante Ella aber schon bei ihrer Tochter zu sein. Die kleine Sarah war jetzt sicher mit ihrer Großmutter dabei, den Tannenbaum zu schmücken.
Sarah glaubte an Weihnachten, trotz aller Bemühungen des verhaßten Karmanns, es ihr auszutreiben. Sie war erst vier, und Ella tat alles, um ihr den Zauber von Weihnachten zu erhalten.
Sarahs Vater war schon kurz nach ihrer Geburt verschwunden, aber Ella war auch alleine gut mit der Erziehung klargekommen. Ihr Beruf als Ärztin machte es ihr nicht immer einfach, aber sie wußte, daß sie einiges richtig gemacht hatte, wenn sie ihre Kleine betrachtete...
Ihre Miene verfinsterte sich, als sie wieder an ihren Nachbarn denken mußte.
"Hör auf damit, Ella! Sofort!"
Ella schreckte aus ihren Gedanken auf.
"Ich habe es genau gesehen: erst hast du an Sarah gedacht, und vor Dich hin gegrinst wie ein Honigkuchenpferd. Dann kam Dir der alte Karmann wieder in den Sinn richtig? Hör auf damit! Lass' Dir von so jemand nicht Weihnachten verderben! Wenn du das zuläßt, hätte er Erfolg gehabt, und das willst du doch sicher nicht, oder?"
Sie seufzte.
"Du hast ja recht. Wie immer. Trotzdem fällt es mir schwer--"
In diesem Moment schlug ihr Pieper an. - Einsatz.
Sein schriller Alarm drängte alles andere sofort in den Hintergrund. Hannes und Ella nahmen ihre Jacken und gingen sofort zu ihrem Wagen.
"Einsatz für den Notarzt, Grüne Straße 3, Mann auf der Straße vor dem Haus zusammengebrochen und nicht mehr ansprechbar", schnarrte es aus dem Funkgerät.
"Verstanden", meldete Ella, "wir sind auf dem Weg!"
Hannes schaltete das Blaulicht an, als sie vom Krankenhaus auf die Straße einbogen und sich durch den dichten Verkehr auf den Weg machten.

Ein kleiner Junge hielt einen abgerissen Bart eines Weihnachtsmannes in der Hand und heulte wie ein Schloßhund.
Herr Karmann triumphierte!
"Seht ihr denn nicht, daß ihr belogen worden seid, Kinder! Das ist nur der Angestellte eines Kaufhauses, der euch betrügen will!!" - Seine Stimme klang schon beinahe hysterisch. Er drehte sich von einem Kind zum anderen und hielten seinen Monolog, während ein wütender dicker Weihnachtsmann versuchte, seinen Bart zurückzubekommen, aber Karmann war trotz seines Alters noch sehr schnell und versperrte ihm immer wieder den Weg.
Die Mutter des Jungen nahm ihm den Bart ab und versuchte jetzt ihrerseits, ihn dem Weihnachtsmann zurückzugeben, aber der böse Alte ließ das nicht zu. Erst einige Zeit später, als ein Halbwüchsiger einschritt, und Karmann festhielt und ihn unter dessen lautem Protest fortzog, konnte Santa sich wieder arrangieren.
Die Aufmerksamkeitsspanne der ganz kleinen ist nicht sonderlich lang, und so war das Malheur relativ schnell vergessen. Die Tränen trockneten, und die meisten Augen bekamen wieder ihren Glanz zurück, als der Weihnachtsmann, offenbar ein wirklicher Profi, sie mit vielen Werbebonbons tröstete, und ihnen soviel Geschenke versprach, daß die anwesenden Eltern langsam wirklich ins Schwitzen kamen...
"Sie sollten sich was schämen", schimpfte der etwa 16 Jahre alte Junge, der Herrn Karmann ein ganzes Stück weitergezogen hatte. Er sah ihn noch einmal drohend an bevor er sich davonmachte. "Machen sie das nie wieder, hören sie!"
Karmann rückte sich seine Kleidung zurecht und richtete sein ihm verbliebenes Haupthaar. Er murmelte Flüche und Verwünschungen in seinen nicht vorhandenen Bart und sah sich dann um.
Drüben beim Weihnachtsmarkt entdeckte er etwas, was ihn zwang, sich erst einmal hinzusetzen.

"...Wie lange brauchen sie noch zum Einsatzort", verlangte die Leitstelle über Funk zu wissen.
"Wir geben unser Bestes! - Der Verkehr ist sehr dicht. Muß eigentlich alle Welt am Heiligabend noch Geschenke kaufen gehen", klagte Ella.
Sie bogen mit quietschenden Reifen um die Kurve.

Karmann hatte sich wieder im Griff.
Auf der anderen Straßenseite hatte sich eine Gruppe Weihnachtsmänner versammelt, die Glühwein schlürfend fast den ganzen Markt besetzt hielten.
Einige verwirrte Kinder machte Karmann dazwischen aus. Das gab ihm den Rest. Wütend sprang er wieder auf die Beine.
"Ihr Schweine!!" - rief er aufgebracht und lief so schnell er konnte, seine Fäuste schüttelnd, über die Straße.
Etwa auf halber Strecke wurde er von einem Rettungswagen, der um die Kurve geschossen kam, überfahren.

Hannes stöhnte. Vorsichtig tastete er, ob noch alles an ihm heil war, bevor er sich Ella zuwandte.
"Alles in Ordnung bei dir?"
"Nein", antwortete Ella mit gedrückter Stimme. Sie hatte eine Platzwunde auf der Stirn, die stark blutete und rieb sich den schmerzenden Arm. "Ich hätte mich wohl besser anschnallen sollen, schätze ich. Was ist passiert?"
"Jemand lief mir vors Auto, und... - Oh, verdammt! Schnell, wir müssen nach ihm sehen!"
Hannes sprang sofort aus dem Wagen. Ella stöhnte einmal kurz und wischte sich das Blut aus dem Gesicht, bevor auch sie, etwas wackelig auf den Beinen, mit ihrer Tasche aus dem Wagen sprang und Hannes folgte.
Ihr Kollege war schon über den Mann gebeugt, der sich auf dem Boden krümmte und nur ein gelegentliches Stöhnen von sich gab.
"Bleib' du bei ihm! Ich hole die Trage und sage der Leitstelle Bescheid. Auch ohne Medizinstudium sehe ich, daß der Mann von Glück reden kann, wenn er dieses Weihnachten überlebt!"
Dann gab er den Blick frei und Ella stockte der Atem.
"Herr Karmann", flüsterte sie ungläubig
Sie zögerte nur einen winzigen Augenblick, bevor sie sich über den alten Mann beugte und seine Versorgung einleitete.
Die angetrunkenen Weihnachtsmänner hatten nach einer Weile denn doch gemerkt, was vorgefallen war und mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Autorität, die dicke, bärtige Männer mit Zipfelmützen aufbringen können, etwas Platz um den Unfallort geschaffen und die Schaulustigen zurückgedrängt.
Ein weiterer Rettungswagen war inzwischen eingetroffen. Sie versorgten Karmann und luden ihn in einen Rettungswagen, der dann mit heulenden Sirenen ins Krankenhaus zurück fuhr.

'Was ist passiert? Wieso ist es so dunkel? - Licht! Ich brauche Licht!' - Es wurde erst nur etwas, dann viel heller. - 'Stop! Etwas weniger, bitte! So ist es ideal, danke.'
'Gern geschehen', sagte sein Unterbewußtsein.

Am Krankenhaus wurden sie bereits erwartet.
Karmann hatte das Bewußtsein verloren, offenbar aufgrund von schweren inneren Verletzungen. An seine zahlreichen Knochenbrüche wollte Ella gar nicht erst denken... Dafür war später noch genug Zeit! Zunächst hatte sie die Aufgabe, das Leben des fiesen Kerls zu retten.
Die Sanitäter holten den Patienten aus dem Wagen und beeilten sich, ihn für den OP vorzubereiten.
Ella hielt einen kurzen Moment inne und holte tief Luft. Ihr Kopf schmerzte und brummte zwar immer noch, trotzdem fühlte sie sich bereit, sich um ihn zu kümmern.
"Das ist dein gemeiner Nachbar, richtig?", erkundigte sich Hannes.
Ella nickte.
"Dann gebe dir noch mehr Mühe als sonst. Zeig ihm, was Weihnachten ist!" - Er klopfte ihr aufmunternd auf den Rücken und schob sie sanft in Richtung der Tür.
Sie blieb kurz stehen und drehte sich zu Hannes um. "Rufst du bitte bei mir zu Hause an, und sagst meiner Mutter, daß es spät werden könnte?"
"Natürlich."
Ella seufzte und machte sich dann auf den Weg zum OP.

'Und wer bist du?', fragte Karmann.
Keine Antwort.
'Ich möchte dich sehen!" - Es machte ::Plop:: und ein kleines, grünes Männchen kauerte vor ihm und sah ihn vorwurfsvoll an.
'Na, zufrieden', maulte es.
'Du bist aber häßlich!" - rief Karmann erstaunt aus.
'Das kannst du wohl kaum mir zuschreiben, oder? Ich bin ein Produkt deines Kopfes. Was kann ich denn dafür, daß sich soviel Mist angesammelt hat.'
'Wer oder was bist du?'
Das Männchen kicherte.

Ellas Mutter legte den Hörer wieder auf die Gabel und ging zurück ins Wohnzimmer.
"Oma, guck!" - Sarah präsentierte ihr mit weit aufgerissenen Kinderaugen eine große Anhäufung von Legosteinen.
"Das sieht schön aus, Sarah! Was ist das?"
Sarah kletterte auf den Schoß ihrer Großmutter und hielt ihr ihre Konstruktion sicherheitshalber direkt unter die Nase. Erwachsene brauchten manchmal etwas länger, um etwas zu erkennen.
"Weihnachtsmann!" - quiekte Sarah glücklich, drückte ihrer Großmutter ihre selbstgebastelte Kreation in die Hand und stürmte los, um aus dem Fenster zu gucken.
Die alte Dame stand umständlich auf und gesellte sich zu der Kleinen. Zärtlich legte sie ihr ihre Hand auf die Schulter und gemeinsam versuchten sie, den Weihnachtsmann auszumachen.
Nach einer Weile schüttelte Oma sich und sagte: "Ach, was bin ich wieder zerstreut heute! - Ich habe ja gerade mit dem Weihnachtsmann telephoniert!"
Sarahs Kopf schnellte herum.
"Weihnachtsmann?" - rief sie sehnsüchtig und leicht ungläubig, daß so ein beschäftigter Mann die Zeit findet, anzurufen.
"Ja", sagte Oma. "Er sagte, daß deine Mama und er noch etwas zu tun haben! Sie hilft ihm nämlich bei der Arbeit. Darum mußt du heute früh schlafen gehen, damit wir dann morgen richtig feiern können, verstehst du?"
Sie sah, wie es in dem Kopf des kleinen Mädchens arbeitete.
Das Ergebnis schien ihr zu gefallen, denn sie umarmte kurz ihre Großmutter und flitzte dann freudestrahlend und mit einem Affenzahn aus dem Zimmer um sich bettfertig zu machen.

"Das ist ja ein schöner Schlamassel!"
Ella arbeitete hart. Sie hoffte, daß sie wenigstens die inneren Blutungen bald stoppen könnte. Ihr 'Lieblings-Nachbar' verlor viel Blut und sein Blutdruck wurde immer schwächer.

Karmann wiederholte es langsam: 'Anthropomorphe Personifikation meines Unterbewußtseins?? - Ich kann das ja kaum aussprechen!'
'Unterbewußt schon', kicherte sein Unterbewußtsein.
'Und warum bist du hier?'
'Du wolltest mich sehen. Da mußte ich mir wohl was überlegen.'
'Himmel noch mal', gab Karmann ungläubig von sich. Es machte wieder ::Plop:: und das Nichts um ihn herum hatte mit einem Mal einen Himmel.
'Halt, Moment! - Ich müßte ja fallen, wenn ich keinen Boden unter mir habe! Also ist da ein Boden unter mir.'
::Plop:: - Jetzt war auch ein Boden da.
Karmann beschloß, sich erstmal zu setzen.
'Sag' mal, Unterbewußtsein, bin ich etwa tot?'
'Nein. Zumindest noch nicht. Möchtest Du das denn gerne sein?'

Der Anästhesist sah auf.
"Wir verlieren ihn!"
"Scheiße." - Ella schwitzte.
"Sein Herz hat aufgehört zu schlagen!"
"Scheiße", wiederholte Ella, "Reanimation! - Aber zackig!"
Noch auf dem Operationstisch machte der alte Mann nichts als Ärger, dachte er.

"Und jetzt schlaf' gut, Kleines! - Morgen früh feiern wir dann Weihnachten", sagte die Oma und deckte Sarah zu.
"Weihnachtsmann", murmelte die Kleine, schon halb im Schlaf...
Großmutter ging auf leisen Sohlen zur Tür, schaltete das Licht aus und ging lächelnd zurück ins Wohnzimmer.

'Ich kann hier also alles tun, was ich möchte, richtig?'
'Klar', sagte sein Unterbewußtsein gelangweilt. 'Du bist schließlich im Limbo! Hier kannst du alles.'
'Wo liegt dieses Limbo?'
'Das Limbo ist so eine Art Zwischenreich, also zwischen einer und keiner Welt, sozusagen.'
Karmanns Miene verfinsterte sich.
'Das heißt, ich bin also doch...'

"...Tot." - sagte der Anästhesist.
"Nein, das werde ich nicht hinnehmen", erklärte Ella mit ruhiger Stimme. "Los, wir grillen den Mistkerl noch mal!"
Keiner traute sich zu widersprechen, obwohl sie dem alten Mann schon so viel Strom in den Körper gejagt hatten, daß der Tisch sich langsam aufzuladen begann.

'Ich will aber nicht sterben. Nicht an Weihnachten, und so schnell sowieso nicht!'
'Das ist mir recht gleichgültig, weißt Du', erklärte sein Unterbewußtsein. 'Ich suche mir dann einfach einen neuen Job.'
'Wer will Dich schon? - Du bist klein, grün und häßlich!'
Sein Unterbewußtsein zog ihn plötzlich nah an sich heran und zischte ihn mit zusammengebissenen Zähnen an: 'Das liegt jawohl einzig an deinen widerlichen Gedanken, würde ich mal so sagen!'
Er ließ verächtlich von Karmann ab.
'Und überhaupt: Weihnachten bedeutet Dir doch sowieso nichts. Warum stirbst Du nicht einfach?'
Karmann schnappte nach Luft.
'Das ist nicht wahr! - Ich liebe Weihnachten! ...Aber es muß... - es muß richtig sein!'
'Dann mach es doch richtig! Mir reicht es jetzt. Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mir einen Ausgang denken könntest! In der Ferne zu verschwinden ist immer etwas anstrengend... - Hallo? Hallo, hörst du mich?'
Er wedelte mit der Hand vor Karmanns Augen umher, doch der war zu sehr in Gedanken versunken.

"Wir haben ihn wieder!", meldete der Anästhesist.
"Gott sei dank", sagte Ella. "Dann weiter! Wir müssen ihn noch wieder zusammenflicken."
Die Schwestern tauschten untereinander Blicke aus. Sie waren fix und fertig und fragten sich, welches Kraftwerk Ella wohl angezapft hatte.

'Eine Tür!! - Ich bitte dich! Soviel sollte ich dir doch wirklich wert sein, oder?'
'Ach laß mich in Ruhe! - Ich muß mich konzentrieren' - Karmann setzte sich, und konzentrierte sich.

Die Weihnachtsmänner auf dem Markt waren mittlerweile jenseits von Gut und Böse. Glücklich diskutierten sie bei immer neu bestellten Grogs den Unfall, und wie Heldenhaft sie sich doch verhalten hatten.
Dann änderte sich plötzlich etwas.
Zuerst konnten sie nicht ausmachen, was es ist, nur daß sie aus unerfindlichen Gründen immer näher zusammenrückten.
"Hey, hier stimmt was nicht!" - rief einer.
"Richtig! - Der Grog ist alle!" - grölte ein anderer.
"Macht was ihr wollt - ich jedenfalls gehe jetzt nach Hause", erklärte der Besitzer des Grog Stands und schloß eben diesen ab.
Unwohl sahen die Weihnachtsmänner sich an und raunten. Sie merkten erst jetzt, daß es spät geworden war und außer ihnen niemand mehr da war.
"Und überhaupt: solltet ihr nicht Geschenke ausliefern?" - der Grog-Mann gab ein keuchendes Lachen von sich, winkte noch einmal und machte sich dann davon.
Sie rückten noch näher zusammen - sehr nahe. Und sie schwiegen mit einem Mal.
Nach einiger Zeit gesellten sich weitere Weihnachtsmänner zu ihnen, stellten sich mit ihnen auf den Platz, drängten sich an sie. Kein Laut war mehr zu hören, außer dem leisen Rascheln sich aneinander reibender Polyester-Weihnachtsmannkostüme.

Ella stand der Schweiß auf der Stirn.
Die Anderen am Tisch wurden langsamer, stöhnten über die harte Arbeit und klagten, daß sie ausgetauscht werden wollten, da sie ihre Konzentration verlören.
"Konzentration", dachte Ella. "Ja, ich brauche nur etwas mehr-"

'- Konzentration. Dann schaffe ich es', murmelte Karmann.
Sein Unterbewußtsein saß murrend neben ihm.
'Hör mal, du schaffst das schon, aber laß mich doch jetzt bitte gehen, ja? Gib' mir eine Tür, ich verschwinde dann von hier und tauche dann schon nach nur einem kurzem Urlaub im Süden wieder in deinem Kopf auf. Du wirst kaum merken, daß ich weg war!

Kurz nach dem die Oma das Zimmer verlassen hatte, öffnete Sarah langsam wieder die Augen.
Als sie sah, daß sie tatsächlich fort war, setzte sie ihre Füße behutsam auf den Boden und schlich zum Fenster, aus dem sie prüfend hinaussah. Nichts zu sehen. Die Nachbarschaft lag da wie immer.
Sie tapste zurück zu ihrem Bett, sammelte Decke, Kissen und nach kurzer Überlegung auch ihren Teddybären ein und brachte alles zu dem Sessel, der vor ihrem Fenster stand.
Dort machte sie es sich bequem. Dieses Mal würde sie den Weihnachtsmann nicht wieder verpassen. Sie war schließlich kein kleines Mädchen mehr!
Draußen fing es an zu schneien...

...Und es kamen immer mehr Weihnachtsmänner und drängten sich an ihre Kollegen.
Keiner von ihnen sprach. Keiner dachte darüber nach, wie er dort hin gelangt war.
Sie schwiegen und warteten.

'Warten... - Nicht mehr lange. Nur noch ein bißchen!'
'Also von mir aus. Aber in einer Stunde habe ich einen Termin mit meinem Psychiater! Das darf ich unmöglich verpassen, wenn ich weiter ein wertvolles Unterbewußtsein sein soll. Was auf mich alles abgewälzt wird' - Der grüne Zwerg rollte mit den Augen - 'Du hast ja keine Vorstellung!'
Er dachte einen Moment nach. 'Obwohl du das eigentlich solltest! - Letztlich bin ich dein Unterbewußtsein!'
Karmann sah aus, als würde seine innere Anspannung ihn jeden Moment zerreißen.
'Jetzt!' - sagte er.

"Was ist denn jetzt los?" - verlangte der Anästhesist zu wissen.
Ella hatte gerade beide Hände im Bauch des alten Mannes und war auf diese Frage nicht richtig vorbereitet.
"Alles normal, denke ich. Wieso?"
Der Andere klopfte kurz mit seinem Knöchel gegen die Anzeigen einiger seiner teuren Präzisionswerkzeuge.
"Ach, wahrscheinlich nichts... - Ich hatte nur für eine Sekunde eine plötzliche Spitze auf meinen Anzeigen."
"Du bist überarbeitet, was?" fragte Ella und nahm sich kurz Zeit für ein breites Grinsen.
"Och, nein, wieso!?" antworteten alle Umstehenden im Chor.

"Was ist denn jetzt los?" fragte sich auch Hardy, ein verwirrter Aushilfs-Santa mit einem großen Sack, auf dem der Name einer Drogerie geschrieben stand.
Der ganze Platz vor ihm war voller Kollegen von ihm. Und er verspürte das dringende Verlangen, sich zu ihnen zu stellen. Er konnte nicht anders. Je näher er den Anderen kam, desto weniger machte er sich Gedanken darüber.
Dann erreichte er die Gruppe, und nachdem er sich zu ihnen gestellt hatte, schien das große Puzzle komplett zu sein.
Ihre Konturen verschwammen. Die Menschenmasse verwandelte sich, verschmolz miteinander.

Wenige Minuten später waren alle Weihnachtsmänner verschwunden.
Alle bis auf einen.
Ho! Ho! Ho! Es Gibt Viel Zu Tun! sagte der verbliebene, riesige Weihnachtsmann. Er sah sich voller Tatendrang um.
Er war riesig - mindestens 20 Meter groß, und prächtig! Er sah genauso aus, wie man sich einen Weihnachtsmann vorstellt. Das einzig Auffallende an seiner Gestalt war ein merkwürdiges silbriges Schimmern, welches ihn umgab und gelegentlich seine Konturen leicht zu verwischen schien...

'Das ist der Weihnachtsmann, flüsterte Karmann ehrfürchtig.
Das kleine grüne Wesen, welches behauptete sein Unterbewußtsein zu sein, kam näher, stellte sich auf die Zehenspitzen und sah ihm tief in die Augen.
'Nicht schlecht!' erklärte es anerkennend. 'Aber warum ist er so groß?'
Karmann sah ihn nachsichtig an. 'Ein Kleinerer würde die ganze Arbeit in dieser einen Nacht doch nie bewältigen können! - Hoffentlich ist er groß genug...'

Er schloß wieder die Augen, zufrieden mit seiner Schöpfung, und beobachtete...

"Geschafft. Zumachen." - Ella wankte erschöpft aus dem Op. Schnell zog sie sich um und setzte sich erschöpft im Pausenraum ans Fenster.
Ihre Kollegen kamen nach und nach herein und klopften ihr anerkennend auf die Schulter. Zuletzt setzte sich der Anästhesist zu ihr, auch er war vollkommen geschafft.
"Gratulation, Kollegin! - Eine tolle Arbeit. Jetzt liegt es einzig an ihm, ob er wieder aufwacht."
Ella sah gedankenverloren aus dem Fenster ins Schneetreiben hinaus.

Mit allergrößter Mühe hielt Sarah die Augen weiter geöffnet.
Der Schnee hatte sogar noch zugenommen, und das machte es ihr immer schwieriger, draußen noch etwas zu erkennen.
Dann sah sie ihn!
In weiter Ferne stieg sein Schlitten auf. Er war riesig!! Ein gigantischer Weihnachtsmann raste auf einem noch viel größeren Schlitten über den Nachthimmel!
Zu ihrem großen Erstaunen wandte der Weihnachtsmann den Kopf und sah genau in ihre Richtung!
Sarah kroch tiefer unter ihre Decke und sah nur noch, leicht zitternd, mit einem Auge über den Rand. Er beobachtete sie noch immer, über die ganze Entfernung und durch das Schneetreiben hindurch FÜHLTE sie, wie er sie anlachte. Eine wohlige Wärme begann sich in ihrem Bauch auszubreiten und sie mußte kichern.
Der Weihnachtsmann blinzelte noch einmal, dann war er aus ihrem Blickfeld verschwunden.
Kurze Zeit später war Sarah mit einem Lächeln auf dem Gesicht eingeschlafen.

"Ich brauche dringend etwas Schlaf", erklärte Ella und starrte fassungslos aus dem Fenster.
"Was ist los?" fragte eine Schwester. "Du sieht aus, als hättest Du ein Gespenst gesehen?"
Ella schüttelte sich.
"Nein, nein: den Weihnachtsmann! Ausgerechnet..." murmelte sie und mußte an Karmann denken.
Zehn Minuten später lag sie im Bett in ihrem Bereitschaftszimmer und schlief, erschöpft, aber zufrieden.

Karmann blinzelte, und öffnete dann seine Augen einen kleinen Spalt.
Eine Schwester saß auf einem Hocker neben seinem Bett und beobachtete ihn.
"Herr Karmann! Willkommen unter den Lebenden!" erklärte sie.
Der alte Mann sah sich unsicher um.
"Sie hatten einen Unfall! - Aber keine Sorge: wir haben sie wieder zusammengeflickt!"
Er entspannte sich etwas.
"Frohe Weihnachten, Schwester!" flüsterte er, dann fiel er in einen tiefen Schlaf.
Im Traum begegnete er seinem murrenden Unterbewußtsein wieder, und machte ihm endlich eine Tür, durch die es verschwinden konnte. Bevor es ging, drehte es sich noch einmal zu ihm um.
"Weißt du - ich denke ich werde mal was für mein Äußeres tun... Ich glaube, daß ich meine grün-häßliche Phase hinter mir habe. Was meinst du?"
Es wartete nicht auf eine Entgegnung sondern verschwand.
Karmann schlief danach traumlos weiter.

Die Großmutter stand vom Sofa auf und streckte sich.
"Zeit, schlafen zu gehen", murmelte sie zu sich selbst.
Sie ging ans Fenster, starrte kurz in das Schneetreiben und zog dann die Vorhänge vor.
" - Morgen ist schließlich Weihnachten!"
Sie löschte das Licht und ging ins Bett.

(c) nils 16-12-1998

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