Schattenwelten

Pats Teil unserer populären FIREWALL!-Edition mit Kurzgeschichten. Sehr populär, also könnte es fast gut sein! =O) Überzeuge Dich einfach selbst! Gesamtauflage der Print-Ausgabe: etwa 100 Stück

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Schattenwelten

Beitragvon admin » 02.12.2003, 00:23

Einzelhaft, hämmerte es immer noch in Joes Kopf. Er lag, sich vor Schmerz windend, zusammengekrümmt auf der Pritsche seiner dunklen Zelle und einzig das mehr als spärliche Mondlicht leistete ihm Gesellschaft.
Der quälende Schmerz in seiner Magengegend durchzuckte ihn mit Hammerschlägen, die sich als Ziel seine Magengegend vorgenommen hatten. Immer wieder mußte Joe die Beine an den Körper ziehen, weil der Schmerz nur noch in dieser kauernden Haltung auszuhalten war.
Ständig durchfuhren ihn Gedanken und Bilder, die er nicht in der Lage war festzuhalten. Immer wieder durchstreiften einzelne Fetzen von Erinnerungen der jüngsten Vergangenheit sein Bewußtsein. Er war hier, aber wie er hierhergekommen war und wo hier überhaupt war, das wußte er nicht. Es interessierte ihn auch im Moment nicht besonders, er war zu sehr mit seinem Magen beschäftigt.
Als ihn ein weiterer Krampf schüttelte, verzerrte sich sein Gesicht zu einer Fratze und sein Körper zuckte so heftig, daß er beinahe von der Pritsche gefallen wäre. Zwei Beamte hatten ihn hier herein geschleift und auf die klapprige Liege fallen lassen. Er lag immer noch genauso da, wie sie ihn verlassen hatten.
Soweit er seine Zelle in den seltenen schmerzfreien Momenten überblicken konnte, bot dem Auge nicht mehr als vier feuchtkühle Wände. Sie war nur wenig größer als eine Besenkammer. Die Wolldecke, auf der er lag und wohl zum Zudecken gedacht war, hatte keinen praktischen Nutzen mehr. Die Löcher in ihr waren zahlreich und mindestens faustgroß. Der Geruch, der von diesem Flickenwerk ausging, ließ erahnen, daß es sich bereits mehrere Generationen von Häftlingen auf ihr gemütlich gemacht hatten.
Als die Krämpfe wieder abklangen, versuchte Joe die Augen zu öffnen und die Wände genauer zu betrachten. Er konnte erkennen, daß andere Gefangene vor ihm Nachrichten in den Stein geritzt hatten. Er versuchte einige davon zu lesen, doch er konnte nur schemenhaft Buchstaben ausmachen. Nichts davon war zu einem Wort oder gar einem Satz zusammenfügbar. Das spärliche Licht half ihm nicht gerade dabei, die Inschriften besser erkennen zu können.
Einen Augenblick verharrte er und versuchte die Ereignisse der letzten Stunden zu überdenken. Er konnte sich wieder an einige Einzelheiten erinnern.
Ein Transporter hatte neben ihm gehalten, als er gerade die Straße entlang schlenderte. Zwei Männer, offenbar Polizisten, schnappten ihn, zerrten ihn in den Wagen und schlugen ihn zusammen. Nach längerer Fahrt im Dunkel des Wagens hatten sie ihn unsanft heraus befördert und in diese Zelle geworfen.
Er wußte nicht, warum das alles passiert war. Er war lediglich auf dem Weg aus der Kneipe nach Hause gewesen. Ein Gedanke schnellte ihm durch den Kopf: Vielleicht waren dies keine Polizisten gewesen?
Alles, an das er sich sonst noch erinnern konnte, daß war der Schmerz, der unzählige Male auf dem kurzen Weg vom Auto in die Zelle in seinem Körper explodierte und ihn nach und nach das Bewußtsein verlieren ließ.

Joe fühlte, wie sein Körper sich aufbäumte und gegen die Schmerzen zur Wehr setzte. Es war keine Besserung seines Wohlbefindens, er war sich jetzt nur sicher, daß er dies alles überleben würde und das gab ihm zumindest für den Moment die Kraft sich ein wenig zu entspannen.
Die Minuten zogen sich hin. Joe lag da wie in Trance und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Leider war das schwieriger, als er gedacht hatte. Eine Art Nebel hatte sich über sein Bewußtsein gelegt und dämpfte alle Gedanken.
Bisher hatten sich seine Wärter (Entführer?) Noch nicht wieder blicken lassen. Weder Geräusche noch ein Lichtschimmer drangen durch die dicke Stahltür, die ihm den Weg in die Freiheit versperrten. Dieser Weg setzte natürlich voraus, daß er ihn auch hätte gehen können, davon konnte er aber im Moment nur träumen.
Es verging einige Zeit und Joe ertappte sich immer wieder dabei, daß er kurz einschlief. Einerseits begrüßte er den Schlaf, andererseits garantierten seine Träume, daß er schnell wieder wach wurde. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er nicht schlafen können.
Die Nacht befand sich auf ihrem Höhepunkt. Joe schätzte, daß es etwa zwei oder drei Uhr nachts war. Durch das kleine Zellenfenster waren keinerlei Anzeichen von Tageslicht zu erkennen.
Plötzlich hörte Joe ein Kratzen, welches von der gegenüberliegenden Wand zu kommen schien. Im ersten Moment hielt Joe es nur für Einbildung, doch als er das Geräusch wieder und wieder hörte, versuchte er die Ursache des Geräuschs zu erspähen. Er blinzelte in die gegenüberliegende Ecke der Zelle. Er vermutete den Ursprung des Geräuschs irgendwo dort, unterhalb des Fensters, aber er konnte nichts Konkretes ausmachen. Er hatte den Eindruck, als würde das Geräusch näher kommen. Aus dem Kratzen wurde ein Schaben, und aus dem Schaben schließlich ein Schleifen.
Das Schleifen schien näher zu kommen. Etwas löste sich aus den Schatten, die die Wand umgaben und bewegte sich auf Joe zu. Dieser zuckte mit den Augenbrauen. Mißtrauisch spähte er ins Dunkel, konnte aber immer noch keine festen Konturen erkennen. Schließlich schien das Geräusche kaum mehr als einen halben Meter von seinen Beinen entfernt zu sein.
"Na, prima! - Ratten", dachte Joe, "das hat ja wohl gerade noch gefehlt!"
Joe machte einige Zischgeräusche und setzte noch ein ‘Kusch kusch!’ hinzu.
"Hau ab, du blöde Ratte", setzte er nach.
"Was heißt hier Ratte", grummelte jemand, "deine Beleidigungen kannst du dir sparen!"
Trotz seiner Schmerzen war Joe plötzlich hellwach. Eine derartige Reaktion hatte er nicht erwartet. Joes Körper sammelte seine verstreuten Gliedmassen ein, die eben noch über die Pritsche verteilt waren und nahm reflexartig eine Abwehrhaltung eine.
"Damit eines klar ist", grummelte die fremdartige Stimme, " im Gegensatz zu Ratten lege ich noch wert auf mein Äußeres und bevorzuge außerdem eine gewisse Qualität bei Nahrungsmitteln!"
Hoch erschrocken stammelte Joe einige unverständliche Worte zu seiner Rechtfertigung.
"Was bist du denn für einer", erkundigte sich die Stimme. Joe konnte den Ansatz eines kleinen Kopfes in Bodennähe erkennen, der erschüttert geschüttelt wurde: "Sie haben diesen Ort jetzt wohl in eine Anstalt verwandelt, was?"
Langsam bekam Joe wieder einen klaren Kopf.
"Also, ich hoffe nicht", antwortete er und fragte sich ob dies wohl Teil einer neuen Therapie sei. Andererseits gehörte Leute von der Straße zu zerren und sie zu verprügeln garantiert nicht zu einer psychotherapeutischen Standardmethode.

Der Besitzer der Stimme kam nun auch zum Vorschein. Ein kleines, gnomartiges Wesen trat aus dem Dunkel der Ecke in das Licht, welches der Mond durchs Fenster hineinließ. Beim ersten Anblick zuckte Joe zusammen, doch dann sah er, daß eigentlich nichts wirklich grauenvolles an dem kleinen Kerl war, der sich da vor, oder besser: unter ihm aufbaute.
Das Wesen war knapp 20cm groß und sein Gesicht war dominiert von einer großen, runden Knollennase. Seine Gestalt erinnerte Joe an eine verblüffende Mischung aus einem norwegischen Latex-Troll und einer Spielfigur, die er mal im Spielzeugladen gesehen hatte. Wirklich überrascht war er aber von der Kleidung des Kleinen: Es sah aus, als hätte der kleine Gnom Safari-Ken überfallen und ihm seine Kleidung geraubt. Joe fragte sich, was Barbie wohl dazu sagen würde.
In der einen Hand hielt einen kleinen Klappstuhl, in der anderen einen farblich dazu passenden Sonnenschirm.
"Was guckst du denn so blöd", verlangte der Gnom zu wissen,"hast du noch nie einen Touristen gesehen ?"
"Nun, ja, natürlich", stotterte Joe, "aber noch nie welche, die kaum 20cm groß waren!
Im Stillen fragte er sich, ob man ihn vielleicht mit Drogen vollgepumpt hatte.
"Na und? - Auf alle Fälle haben auch kleine Wesen ein Recht auf Urlaub."
Der Gnom kam nun etwas näher und beäugte Joe mißtrauisch. Dieser war immer noch verwirrt und suchte im Gesicht des Gnoms immer noch nach dessen Augen. Er schloss weiterhin nicht aus, daß er träumte oder unter Drogen stand, was sich natürlich nicht ausschließen mußte.
"Außerdem bist du auch nicht gerade der Größte deiner Spezies", grummelte der Gnom, hüpfte auf die Pritsche, stellte nahe Joes Kopf seinen Liegestuhl auf und machte sich an seinem Sonnenschirm zu schaffen. Er spannte ihn auf, ließ sich in den Stuhl sinken und seufzte zufrieden.
"Wer, und vor allem was bist du", fragte Joe ihn und wartete heimlich darauf, daß der Gnom jetzt eine, seiner Größe entsprechende, Cola Dose hervorzauberte.
"Was ich bin? - Du stellst blöde Fragen! Was bist du denn", fragte der Gnom sichtlich genervt.
"Ich bin ein - He, Moment mal! Meine Spezies ist nun wirklich recht bekannt! Aber, ich meine, ich hab noch nie jemanden wie dich..." - Er konnte den Satz nicht zu Ende bringen, da sich ein weiterer Krampf in seiner Magengegend bemerkbar machte.
"Für mich bist du eine Art Dinosaurier, verdammt zum Aussterben und wenn ich dich so anschaue, scheint es bei dir sogar etwas schneller zu gehen als bei dem Rest deiner Spezies", sprach der Gnom ungerührt weiter.
Joes Krämpfe ließen wieder etwas nach.
"Also, mal abgesehen davon, was machst du hier eigentlich? Urlaub?"
"Ja, wieso? Das hier ist das Paradies. Die Decken sind wunderbar hoch und das Mondlicht ist ausgezeichnet für die Haut sein." - Er zauberte eine kleine Sonnenbrille hervor, setzte sie auf und lehnte sich wieder entspannt zurück.
"Dieser Urlaub ist ein Pauschalangebote", fuhr er fort, "ein Schnäppchen!"
"Aber das hier ist die mieseste Höhle in der ich gelandet bin", meinte Joe, den das Reden immer noch sehr anstrengte.
Der Gnom dachte einen Moment darüber nach. Joe sah, wie sein Gesicht sich in Falten legte, dann schien er zu einem Entschluß zu kommen.
"Wir haben da wohl unterschiedliche Einstellungen..." - Er schüttelte den Kopf. - "Ich heiße übrigens Tyr. Ich hab vorhin etwas geschwindelt. Natürlich kenne ich deine Spezies - Menschen nennt ihr euch, nicht wahr? - Nun ja, bevor du zur Hauptperson meines versauten Urlaub wirst, meine ich, daß wir versuchen sollten miteinander klarzukommen. Mein Reisebüro versicherte mir, daß ich mich hier ungestört erholen könnte. Von einem Monster wie dir stand nichts im Vertrag." - Tyr suchte etwas in seiner Tasche. Joe erkannte, daß der Gnom ihm jetzt einen Notizblock mitsamt Stift, beides in Miniaturausführung hinhielt.
"Würdest du mir deine Anwesenheit hier bitte schriftlich geben?" - Joe sah ihn verwundert an.
"Ich möchte Regreßansprüche geltend machen, weißt du!"
Joe unterschrieb.

"Sag mal, wo kommst du eigentlich her?"
"Willst du das wirklich wissen", fragte Tyr, während er sein Notizbuch wieder einsteckte.
"Ja, erzähl!" - Joe erwartete eine fantastische Geschichte, wie er sie sonst nur aus ‘Twilight Zone’ oder ‘Akte X’ kannte, hoffte aber auf ein besseres Ende.
"Mir scheint, du hast noch nie jemanden wie mich gesehen..." - Der Gnom zögerte. Er schien zu überlegen, ob er Joe wirklich die Wahrheit anvertrauen könnte. Dann räusperte er sich und begann mit ausladenden Gesten zu erklären: "Nun ja, mein Volk und ich, wir leben schon seit Ewigkeiten auf diesem Planeten. Wir haben inzwischen sogar einige eurer tollen Erfindungen übernommen, zum Beispiel die Pauschalreisen. Tolle Sache, wirklich! - Wir hoffen jedenfalls, daß das, was wir machen, auch wirklich Pauschalreisen sind. Keiner von uns hat es je geschafft, einen ganzen eurer Reiseprospekte zu lesen. Sie sind einfach zu schwer, darum sind wir auf Schaufensterwerbung angewiesen." - Er stutzte, als er merkte, daß er abschweifte.
"Zusammengefaßt: Wir leben schon immer direkt neben euch! Wir sind sozusagen direkte Nachbarn!"
"Nachbarn", fragte Joe ungläubig nach.
"Ich sehe schon, du hast gar keine Ahnung! Ich versuche es dir zu erklären. Wir leben in den von Euch nicht genutzten Räumen. Du mußt dir das ähnlich einem Hochhaus vorstellen: Die Erde ist das Hochhaus und in diesem Haus gibt es verschiedene Wohnungen und auch ein Lüftungssytem. Dort kann kein Mensch ohne weiteres hineingelangen. Es gehört zu dem Haus, wird aber von den Menschen nicht beachtet, obwohl es immer da ist. In diesen Lüftungsschächten leben wir!"
Joe hatte die Augen nur geschlossen, um sich das Beschriebene besser vorstellen zu können, aber schon die ersten Sätze des Gnoms hatten ihn ins Land der Träume versetzt.

Als Joe wieder erwachte, durchströmte das Licht der gerade aufgegangenen Sonne den Raum. Überrascht sah er sich, doch der Gnom war nicht mehr im Raum. Er fand nur eine winzige Notiz auf dem Fußboden: "Wenn ich von deinem Schnarchen erzähle, bekomme ich glatt noch mehr Schadensersatz vom Reiseveranstalter! Nicht für ungut! - Tyr"

Noch am selben Tag wurde er wieder aus dem Gefängnis entlassen. Eine Hellseherin hatte ihn mit Hilfe ihrer Kristallkugel als Terroristen enttarnt, was sich erst später als Irrtum herausstellte. Er durfte gehen, nachdem er ein Papier unterschrieben hatte, das besagte, daß er im Gefängnis gut behandelt worden war.
Noch am selben Tag wurde die Hellseherin selbst verhaftet. Ein Pfadfinder hatte beobachtet, wie sie bei rot über die Straße gegangen war.

Twoflower / h.l.v.s 1997

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