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Pats Teil unserer populären FIREWALL!-Edition mit Kurzgeschichten. Sehr populär, also könnte es fast gut sein! =O) Überzeuge Dich einfach selbst! Gesamtauflage der Print-Ausgabe: etwa 100 Stück

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Beitragvon admin » 02.12.2003, 00:30

Ich weiß nicht mehr genau, wie ich davon erfahren hatte, jedenfalls brachten mich einige Ereignisse, die ich nicht zu kontrollieren vermochte, eines noch relativ kühlen Frühlingstages ziemlich nahe an einen psychischen Kollaps. Noch heute denke ich mit Schrecken daran zurück.
Dabei begann an diesem Tag alles wie gewohnt.
Ich war ausgeschlafen und entspannt und nicht einmal das Wissen über eine geheimgehaltene Explosion eines Space-Shuttles hätte mich verstören können. Nicht einmal außer Kontrolle geratene Kernbrennstäbe im Reaktor auf Five-Mile-Island, die daran dachten, sich in einem unbeobachteten Moment wider der Naturgesetze zu verhalten hätten mich so schockiert, wie das, was ich an jenem Tag erfuhr.
Ich hielt Politiker schon immer für ein faktisch inkompetentes Gremium, insofern hätte ich einige der Entwicklungen vielleicht absehen können. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich damals am Busbahnhof von Tijuchana, im kapitalistischsten Nordens Mexikos, Susanna Pedros bereits gekannt hätte.
Es geschah ungefähr um acht Uhr morgens, als Susanna dort auf ihren Bus wartete. Woher sie kam und was sie mit ihrem bisherigen Leben gemacht hatte, wird wohl nie ganz enthüllt werden. Sie wartete auf die Abfahrt des Busses nach Mexico City.
Susanna war eine immigrierte Mexikanerin. Ihre Eltern waren aus Europa eingewandert da sie sich nicht weiter mit den dortigen kapitalistischen Idealen abgeben wollten. Als sie nach Mexiko kamen, hatten ihre Eltern noch nichts von Tijuchana gewußt, welches weitaus kapitalistischer war, als alle Ölgesellschaften zusammen.
Das war nun schon einige Jahre her und ihre Eltern waren inzwischen bei einem Tornado ums Leben gekommen und hatten Tijuchana nie mit eigenen Augen zu sehen bekommen.

Der Moment, indem ich hätte eingreifen können, um die Geschichte zu verändern, war der, als Susanna von einer Gruppe jugendlicher Halbstarker angerempelt wurde als sie gerade in ihren Bus steigen wollte. Ihre Reisetasche hob sie hastig wieder auf, den kleinen Rucksack, der noch etwas abseits am Boden lag, vergaß sie und er blieb noch weiter in der Sonne liegen, als Susanna bereits einige Kilometer mit dem Bus zurückgelegt hatte.
Wenige Kilometer nördlich schnappte eine US-Rangertruppe fünf Mexikaner, die versucht hatten, illegal über die Grüne Grenze in die USA einzureisen. Auf eine übermäßig-brutale Art wurden die fünf zusammen geknüppelt und einen Tag später wieder nach Mexiko abgeschoben.
Ironie des Schicksals, daß einer von ihnen es eine Woche später wieder versucht und es diesmal auch schaffte. Nur wenige Jahre später saß er im Vorstand einer großen Firma in Silicon Valley und wurde nie wieder nach seiner Herkunft gefragt.
Ziemlich zur gleichen Zeit gab es auf einem anderen Kontinent in einem Staat namens Deutschland eine heftige Protestkundgebung, die sich gegen ein Atomzwischenlager in Gorleben richtete. Dort hatten sich einige tausend Menschen zu einer Demonstration eingefunden und ein großes Kontingent an Polizisten sollte sie in Schacht halten. Die Atomkraftgegner hielten das für besonders lustig und machten trotz des eher kühlen Wetters aus der Demonstration eine große Party, während die staatlichen Kräfte dazu verdammt waren, dumm rumzustehen.
Jörg Kalowski, ein Beamter der staatlichen Eingreiftruppe überlegte sich gerade, ob er nicht lieber überlaufen und mitfeiern sollte.
Die anderen Polizisten dachten in diesem Augenblick eher an profanere Dinge, wie z.B. ihre vom rumstehen unterkühlten Füße.
Susanna merkte zu spät, daß sie ihren Rucksack verloren hatte. Sie schaffte es nicht, den Busfahrer zum Umkehren zu bewegen und so gab sie ihn auf.
Der Rucksack wurde von einer älteren Frau gefunden und mitgenommen. Sie hielt ihn für einigermassen hübsch und nahm ihn, nachdem sie sich vergewisserte, daß es am Busbahnhof wirklich keinen Besitzer für ihn gab, mit nach Hause.
Dort angekommen schenkte sie ihn ihrem Schwiegersohn, der sehr reich war und sie trotzdem nahe der Armutsgrenze leben ließ. Dieser sollte den Rucksack ihrer Enkelin, also seiner Tochter, geben. Missmutig nahm der Geschäftsmann den Rucksack mit auf die Reise, in der Hoffnung seine Schwiegermutter dadurch endlich loszuwerden. Er beschloß, ihn auf dem Flughafen ordnungsgemäß zu entsorgen und packte ihn erstmal in seine Reisetasche, um die alte Frau davon zu überzeugen, daß er das Geschenk an seine Tochter weiterleiten würde, auch wenn er nicht im entferntesten daran dachte.

Der Nachmittag war kaum angebrochen in Mexiko, als ein kolumbianischer Atomforscher eine wirklich wichtige Entdeckung machte, die die Welt revolutionieren würde. Da er aber die Atomphysik nur noch als Hobby betrieb, seitdem er in einem kleinen Drogenlabor für das Kali-Kartell arbeitete, beschloß er, diese Entdeckung erst später der Öffentlichkeit vorzustellen. Dummerweise sprengte noch am selben Tag das Medellin-Kartell das Labor, in dem er gerade arbeitete, in die Luft und das nur, weil der Medellin-Chef meinte, daß der Kali-Chef beim Schachspielen geschummelt hatte (was sich aber noch am selben Abend als unglückliches Missverständnis herausstellte!).
Fidel Castro war an diesem Tag nicht für die große Weltpolitik verfügbar, da ihn böse Kopfschmerzen plagten und so verpaßte er mal wieder die wirklich wichtigen Dinge.

Seine Schwiegermutter hatte ihn länger als erwartet aufgehalten und so kam der Geschäftmann beinahe zu spät am Flughafen an. Aus lauter Hektik vergaß er schließlich den Rucksack zu entsorgen und bestieg die Maschine, ohne auch nur einen weiteren Gedanken an ihn verschwendet zu haben. Die Frage, wie er noch viel mehr Geld verdienen könnte, plagte ihn viel mehr.

Die Gorleben-Party entwickelte sich erwartungsgemäß. Erst kurz, bevor es zu spät war, kam Helmut Schwerte, Truppenführer der Polizei, dahinter, daß die Tunnel, die die Demonstranten gruben, den Sinn hatten, den Atomtransport aufzuhalten. Er bekam deshalb ein Disziplinarverfahren angehängt und wurde noch im selben Sommer in Frühpension geschickt. Das störte die Demonstranten wenig. (Noch am selben Tag wurde einer von ihnen, der auf einem Fahrrad durch die Menge fuhr und während des Fahrens mit einer Kamera filmte, von einem Polizisten vom eben jenem Fahrrad runter gezogen. Doch das nur am Rande, da es nicht wirklich handlungstragend ist...)
Ein Dutzend Chinesen, die gerade in Rußland waren, klauten kurz vor dem Mittagessen noch eben ein ausrangiertes Atom-U-Boot der russischen Marine, kamen aber nicht sehr weit damit, da der alte Antriebsreaktor schon längst gestohlen worden war. Er diente im Moment einem polnischen Forschungsteam als Studienobjekt. Die Chinesen hatten wirklich Probleme, da sie es nicht schafften, von ihrer Position unter dem Nordmeer jemals wieder wegzukommen. Es war eine blöde Idee, meinte einer von ihnen noch, freute sich dann aber doch wieder des Lebens, als er unerwarteter Weise einen Vorrat Wodka in einem Spind vorfand.
Die polnische Forschungsteam, nicht unbegabt in der Atom-Physik, schickte als sie Pause machten, ein Fax an das polnische Forschungsministerium. Leider erreichte es aufgrund einer fehlerhaften Leitungsverlegung nicht das polnische Forschungsministerium, sondern landete direkt auf dem Schreibtisch des Bundesinnenministers, sowie bei einem türkischen Döner-Großhandel in Frankfurt am Main.
Beide Stellen reagierten sofort auf das Fax.

Der Rucksack landete schließlich samt Reisetasche, in der er verstaut war, kurze Zeit später in der dominikanischen Republik. Doch die Tasche ging mit einigen anderen Gepäckstücken verloren und machte sich nach einiger Zeit mit einem billigen Charterflieger auf den Weiterflug nach Hannover. Der Besitzer hatte den Rucksack in seiner Reisetasche schon wieder vergessen, wollte aber kleinlicherweise unbedingt die Tasche wiederhaben. Er wurde vertröstet und fortgeschickt und so verließ er nur mit seiner Aktentasche den Flughafen und bereitete sich auf das auf ihn zukommende Geschäft seines Lebens vor. Er hoffte, daß er seine Tasche irgendwann einmal wiederzusehen.

Susanna Pedros erreichte, traurig über den Verlust ihres Rucksacks, in Mexico City an und bekam dort unerwarteter Weise eine leichte Salmonellenvergiftung, die sich auf den Fischburger zurückführen ließ, den sie unterwegs gegessen hatte.
Eigentlich hatte sie einen wichtigen Termin mit dem Chefredakteur der Mexican Times, mußte ihn aber verschieben, da sie es nicht riskieren wollte, das Gespräch alle 2 Minuten für einen Gang zur Toilette zu unterbrechen. Susanna sah ihren Rucksack nie wieder.

Das unerwartete Fax ließ den Bundesinnenminister sofort beim Bundesnachrichtendienst anrufen, während Abdul Izmir, der Besitzer des Döner-Großhandels, sofort seine Freunde bei der Mafia informierte, die endlich mal was für das viele Schutzgeld, das er zahlte, tun sollten.
Dadurch geriet einiges in Bewegung. Die Mafia begann in Frankfurt noch am selben Tag einen Bandenkrieg mit den Russen, während der BND Wohnungen katholischer Priester observierte, sogar teilweise durchsuchte und einen Bischof in Gewahrsam nahm.

Der Charterflieger mit dem Rucksack an Bord landete in Hannover und eine Horde deutscher Touristen verließ ihn. Einer von ihnen war so betrunken, daß er sich nicht mehr erinnern konnte, ob er nur eine Reisetasche mitgenommen hatte, oder zwei, und nahm so aufgrund seiner momentanen doppelter Sehkraft einfach noch eine zweite Tasche mit, die genauso aussah, wie seine eigene. Keiner bemerkte es, da kein anderer einen Anspruch auf die Tasche erhob, und so reiste der Rucksack, der immer noch in der Tasche steckte, weiter durch die Weltgeschichte.
Ein Freund holte den Mann vom Flughafen ab und zusammen beschlossen sie, erstmal weiter zu feiern und so fuhren sie auf der Autobahn nach Norden, direkt dorthin, wo sie eine Party vermuteten. Sie fuhren nach Gorleben.

Auch die Chinesen in ihrem U-Boot waren inzwischen ziemlich betrunken und rammten mit aller verbliebener Energie einen Eisberg, gingen unter und sangen dabei unerwarteter Weise einen alten Madonnahit.

Biertrinken während des Fluges wirkt ziemlich harntreibend und daher beschlossen die beiden betrunkenen Partysucher unterwegs eine Pause auf einer Autobahnraststätte einzulegen. Nach vollzogener Blasenentleerung, beschloß der gerade aus der Dominikanischen Republik Zurückgekehrte seine zollfreien Einkäufe anzubrechen und machte sich am Kofferraum zu schaffen. Die erste Reisetasche, die er zu fassen bekam, enthielt kaum mehr als einen dusseligen Rucksack, den er verärgert hinter sich schleuderte, weil er ihn absolut nicht gebrauchen konnte. Ansonsten fand er nur weitere unnütze Dinge in der Tasche. Also schnappte er sich die andere und zog aus ihr befriedigt eine Flasche Hochprozentigen hervor. Er stieg wieder ein und sie fuhren weiter in Richtung Gorleben.
Der fortgeschleuderte Rucksack traf ein parkendes Auto, dessen Besitzer verwirrt ausstieg und den Rucksack betrachtete. Er sah die Täter nur noch davonbrausen und so nahm er den Rucksack mit und machte sich mit ihm wieder auf den Weg.
Als der neue Besitzer des Rucksacks zu Hause ankam, es war bereits dunkel, wurde er bereits von einem Einsatzkommando des BND erwartet, die ihn verhörten und sein Haus und Auto durchsuchten. Sie fanden den Rucksack, durchstöberten ihn und nahmen den Mann, einen Priester, sofort fest.
Wie sich später herausstellte, befanden sich in dem Rucksack zusammengetragene Informationen über neuerworbene Erkenntnisse der Kernforschung. Selbst ein Professor für Atomphysik aus Hannover, der zur Interpretation hinzugezogen wurde, war über diese Neuentdeckungen verblüfft. Er erklärte, daß es sich nur um gestohlene Informationen handeln könne und daß diese außerdem die Sicherheit der Welt erschüttern würden.

Das polnische Wissenschaftsteam rief noch am selben Tag beim Forschungministerium an und erkundigte sich, ob ihr Fax dort angekommen sei. Sie trieben mit einigen Mitarbeitern des Ministeriums lustige Scherze indem sie ihnen Faxe schickten, die die Weltübernahme durch wechselnde Gruppen ankündigten. Sie waren etwas enttäuscht zu hören, daß das Fax nicht angekommen war, dachten sich aber nichts weiter dabei.

Susanna Pedros ging es erst einige Tage später wieder besser. Leider mußte sie dann ihren Artikel über die Kernenergie zurückstellen aufgrund einer neuen Geschichte, einem Aufstand in im afrikanischen Kongo. Sie dachte nie wieder über ihren Atomreport nach, da sie die Informationen, die sich in ihrem Rucksack befanden und die sie von einem kolumbianischen Forscher erhalten hatte, der kurz vor einer revolutionären Entdeckung gewesen war, nicht richtig hatte einordnen können.
Eigentlich war sie ja wegen eines Drogenreports in Kolumbien gewesen, traf dann aber auf diesen Forscher, der ihr zusätzlich zu den Information über die Drogenkartelle auch noch einige Unterlagen über irgendwelchen Atomkrempel in die Hand gedrückt hatte.
Die Party in Gorleben sollte noch zwei volle Tage weitergehen.
Keiner der Anwesenden ahnte, daß es beinahe gelungen wäre, die Atomkraft ganz zu vermeiden.

Twoflower / h.l.v.s. 1997

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