Die Wahrheit ist irgendwo da draußen...

nils' Teil unserer populären FIREWALL!-Edition mit Kurzgeschichten. Sehr populär, also könnte es fast gut sein! =O) Überzeuge Dich einfach selbst!Gesamtauflage der Print-Ausgabe: etwa 100 Stück

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Die Wahrheit ist irgendwo da draußen...

Beitragvon admin » 02.12.2003, 00:39

Es begann an einem schönen Tag im Juli, als ich auf dem Balkon in der Sonne saß und das Leben genoß. Das ganze Leben? - Nein, eine kleine, unbeugsame Fliege machte mir das Leben schwer und landete bevorzugt auf Stellen meines Körpers, die nicht mit einem fliegenverscheuchenden Handwedeln zu erreichen waren. Nach einiger Zeit wurde die Fliege unvorsichtig und setzte sich vor meiner Nase auf den Boden und übte sich darin, mich verächtlich anzugrinsen. Ich unterbrach sie nur ungern, aber effektiv, mit der geballten Macht und Schönheit von Shakespeares Gesammelten Werken, die ich blitzschnell auf das lästige Insekt niedersausen ließ. Ihre Überreste hinterließen ein vollkommen deplaziert-wirkendes Komma in Julias Monolog auf dem Balkon vor ihrem ersten Stelldichein mit Romeo und zwei unerwartete Überraschungen, einerseits die letzte kurze der Fliege, andererseits meine: Ich hatte zwei neue Narben auf meiner Hand entdeckt, von deren Existenz und Entstehung ich keinen blaßen Schimmer hatte.

Narben fallen nicht einfach vom Himmel. Manchmal fallen Sachen vom Himmel, die dann Narben verursachen können, aber eigentlich nur dann, wenn man drunter steht, kurz bevor sie aufhören vom Himmel zu fallen. Ich hatte keine Erinnerungen an Sachen, die gerade aufgehört hatten, irgendwo runterzufallen während ich unter ihnen stand und wüßte auch nicht, bei welcher anderen Gelegenheit ich mich verletzt haben könnte.
Körperliche Arbeit? - Dabei könnte es passiert sein. Ich kramte in den nicht häufig besuchten Gebieten meiner Erinnerungen, fand aber nur vereinzelte verstaubte Hinweise auf körperliche Arbeit. Ich hatte Zivildienst gemacht und bin jetzt Student. Da geht man nur dann körperlichere Arbeit nach, wenn man sehr verzweifelt ist und mir ging es eigentlich blendend, danke!
Ich beschloß, einen Arzt zu konsultieren.

Das Wartezimmer war brechend voll. Merkwürdigerweise waren außer mir nur Frauen anwesend. Nach drei Stunden hatte ich sämtliche Frauenzeitschriften, die im Wartezimmer lagen, durch und war entrüstet. Das Verhalten der englischen Königssprößlinge in jüngster Zeit war unmöglich, die Rezepte für die Kartoffeldiät in diesem Sommer mehr als widerlich und die Wartezeit in dieser Praxis eindeutig unzumutbar.
Als ich das gegenüber dem Arzt erwähnte, zeigte dieser sich sehr wortgewandt: "Die Königskinder sind eine Erfindung der Boulevardpresse, die Kartoffeldiät läßt sich mit Ketchup und Vanillesauce verfeinern und die Wartezeit war noch verhältnismäßig kurz! Vor einem Monat hatten die Leute noch in meiner Praxis gezeltet, um behandelt zu werden."
Ich nickte beeindruckt. Über seine fachlichen Qualitäten wußte ich nichts, aber immerhin war er schlagfertig. Ich zeigte ihm meine Narben.
"Hübsch", bemerkte er lakonisch, "aber beeindrucken können sich mich damit nicht! Ich bin glücklich verheiratet"
"Aber..." versuchte ich einzuwerfen.
"...Das heißt natürlich nicht, daß wir nicht mal zusammen ausgehen können, ich müßte aber erst meine Frau um Erlaubnis fragen, und..." - Jetzt war es an mir, ihn zu unterbrechen:
"Jetzt halten sie mal die Luft an! - Was ist aus dem guten, alten ‘Wie geht es uns denn heute?’ geworden? Besinnen sie sich bitte wieder auf ihre Rolle als Arzt!"
"Entschuldigen sie, ich habe mich gehen lassen... - Also: Wie geht es uns denn heute?"
Aha, es geht doch! - "Nun, Doktor, mir geht es ausgezeichnet, danke! Ich bin hier, weil ich wissen möchte, wie es mir ging, als ich diese Narben bekam", erklärte ich umständlich.
"Zeigen sie mal her!" - Er besah sich meine Hand genau - "Dürfte etwas weh getan haben, was?"
"Ich weiß es eben nicht mehr! Ich bin hier, weil ich wissen möchte, was diese Narben verursacht hat."
Der Arzt grübelte.
"Ich glaube, das dürfte selbst für einen Chirurgen schwierig zu rekonstruieren sein..."
Ich stutzte: "Was... - Was für ein Facharzt sind sie denn?"
"Ich bin Gynäkologe!" - Instinktiv preßte ich die Beine zusammen. - "Haben sie mein Türschild nicht gelesen?"
"Habe ich nicht. Ich wohl zu sehr in Gedanken gewesen sein..."
"Das sollte ihnen nicht zu häufig passieren! ...Aber immerhin haben sie es trotzdem zu einem Humanmediziner geschafft! Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder nehmen sie hier auf meinem Behandlungsstuhl platz und ich sehe mir ihre Hand mal an" - Diese Möglichkeit gefiel mir nicht besonders gut! - "wobei ich aber schon sagte, daß selbst ein erfahrener Chirurg nicht viel herausfinden wird, oder ich gebe ihnen die Adresse eines Bekannten von mir, der Pathologe im Hafenkrankenhaus ist."
Mir wurde wieder etwas unwohl.
"Hören sie, ich versichere ihnen, daß ich nicht tot bin, und..."
"Beruhigen sie sich! Ich dachte nur, daß er möglicherweise der einzige Mensch sein dürfte, der ihnen mehr zu ihren Narben sagen kann. Man sieht so einiges, wenn man im Hafenkrankenhaus arbeitet!"

Wieder auf der Straße holte ich ersteinmal tief Luft.
Beim Herausgehen hatte mir eine ältere Frau noch Mut zugesprochen. Sie fand, daß eine Geschlechts-umwandlung nichts verwerfliches war und wollte mich das nur wissen lassen. Eine Welle spontanen Applaus´ schwemmte mich aus der Praxis.
Ich beschloß, daß die nächste Operation, der ich mich unterziehen würde, eine Gesichtsoperation sein würde. Ich könnte es nicht ertragen, einer dieser Frauen auf der Straße oder im Supermarkt über den Weg zu laufen.

Das Krematorium des Hafenkranken-hauses war nicht schön anzusehen. Das Krankenhaus war um die Jahrhundertwende erbaut worden. Mittlerweile war der Altbau nur noch ein kleiner Teil des großen Gebäudekomplexes, bestehend aus vielen Anbauten, die während der vergangenen Jahrzehnte hinzugekommen waren, um den wachsenden Patientenzahlen Rechnung zu tragen. Alles war mehrfach modernisiert worden und erstrahlte in klinischem weiß, OP-grün und - wie sollte es in einer Notambulanz anders sein - uringelb. Bei all den Modernisierungen wurde das Krematorium und der dazugehörige Untersuchungsraum jedesmal vergessen.
Inmitten von rohen, feuchten Steinwänden und Säulen, die die hohen, morsch aussehenden Decken stützten, stand ein buckliger alter Mann in einem Kittel, der seine Hände gerade in etwas gesteckt hatte, was wie eine Kreuzung aus Schwein und Pudel aussah.
"Dr. Schwarzenegger", fragte ich. Der Gestank war fürchterlich und ich versuchte, einen Brechreiz zu unterdrücken.
"Jaaaaa??" - Er sah auf. Seine knarrende Stimme, sein weißes, strähniges Haar, daß in alle Richtungen von seinem verrunzelten Kopf abstand und seine klauenartigen Hände erinnerten eher an Quasimodo denn an Schwarzenegger.
"Dr. Schwarzenegger, ich habe ein kleines Problem! Vielleicht können sie mir helfen..."

"...Und so bin ich zu ihnen gekommen", endete ich meine Ausführung.
"Noch ein Stückchen Torte", fragte Schwarzenegger.
Seine gesamte Erscheinung war abstossend, eine nahezu unentschuld-bare Beleidigung aller Wahrnehmungssinne, aber seine selbstgebackene Schwarzwälderkirschtorte machte das alles aber mehr als wett. Sie schmeckte ausgezeichnet. Die meiste Zeit über mit vollem Mund hatte ich dem Doktor erzählt, warum und auf welchen Irrwegen ich zu ihm gekommen war.
Er hatte die ganze Zeit konzentriert zugehört und zu meiner Erleichterung nicht mal das Gesicht verzogen, als ich erzählte, welcher Facharzt mich an ihn verwiesen hatte.
"Na, dann zeigen sie mir mal ihre Hand, junger Mann!"
Ich streckte meine Hand aus und er begutachtete sie mit einer großen Lupe, die er aus einer Tasche seines schmuddeligen Kittels gezaubert hatte. Eigentlich möchte ich Leute am liebsten beissen, die mich ‘junger Mann’ nennen, machte hier aber aus strategischen Gründen eine Ausnahme. Zum einen hätte es das Gespräch mit dem Doktor nicht gerade einfacher gemacht, zum anderen war ich unsicher, ob ich mir durch einen unvorsichtigen Biß nicht vielleicht eine ansteckende Krankheit zuziehen würde.
"Ts, ts, ts", sagte Dr. Schwarzenegger und schüttelte den Kopf, "schwierig, schwierig, schwierig."
"Was soll das heißen, Doktor", fragte ich unsicher.
"Oh, entschulden sie. Ich mache in meiner Freizeit einen Volkshochschul-ausbildung zum Automechaniker. Es wäre vielleicht sensibler, wenn ich Hobby und Beruf mehr auseinanderhielte. Zumindest dann, wenn mein... Patient noch am Leben ist."
Ich beschloß die letzte Bemerkung zu ignorieren und fragte ihn nach seiner Diagnose.
"Schwer zu sagen", erklärte Schwarzenegger. Er hatte meine Hand losgelassen und humpelte nun grübelnd durch den Raum. "Die Narben sehen eigentlich aus wie das, was wir Mediziner ‘stinknormale Narben’ nennen." - Er sah mich an und erkannte meine nur mangelhaft verborgene Enttäuschung.
"Andererseits..." - Holte er aus und weckte mein Interesse erneut.

"Was, andererseits? Sprechen sie!"
"Vielleicht stammen die Narben von einer Untersuchung durch außer-irdische Lebensformen!"
Mein Unterkiefer hakte aus. "Sie meinen, ich bin entführt worden??"

Schwarzenegger besaß offensichtlich einen schlimmen, ansteckenden Wahnsinn.
Es war drei Uhr am Morgen und ich wälzte mich schlaflos in meinem Bett herum. Es gab zu vieles, über das ich nachdenken mußte. Außerirdische sollen mich entführt haben? - Weder gefiel mir der Gedanke besonders, noch mochte ich richtig daran glauben. Aber woher könnten die Narben sonst stammen? Ich habe schon einige Filme gesehen, in denen Menschen im Schlaf entführt worden sind. Später, an Bord der fliegenden Untertasse, wurden ihnen dann merkwürdige Metallstäbe überall in den Körper gesteckt. Als sie wieder zurück waren hat ihnen keiner geglaubt, außer den Redaktionen einiger schlechter Fernsehsendungen und der Boulevardpresse. Genervt gab ich den Versuch zu schlafen auf und schleppte mich in die Küche, wo ich mir etwas von dem zu Gemüte führte, was die Stadtverwaltung als ‘bekömmliches Trinkwasser’ anpries.
Auf dem Küchentisch lag immer noch der Zettel mit der Telefonnummer des FBI, den Schwarzenegger mir mitgegeben hatte. Nach zwei weiteren Gläsern Leitungswasser hatte ich mir genug Mut angetrunken. Ich nahm das Telefon und wählte die Nummer der US-Behörde.

"Ich sagte es ihnen schon einmal: Es gibt keine X-Akten, sie Verrückter!!!" - Ich ignorierte diese Bemerkung. Meine Mutter hatte mich gelehrt, nicht auf Leute zu hören, die drei Ausrufezeichen in wörtlicher Rede verwendeten. Wenn hier einer von uns mental instabil war, dann nicht ich!
"So beruhigen sie sich doch, gute Frau! Wenn sie nicht darüber reden wollen, dann soll es mir recht sein. Geben sie mir einfach irgend jemanden, der bestätigen kann, daß es in letzter Zeit außerirdische Aktivitäten im Raum Hamburg gab. Mehr will ich ja nicht! Ich werde dann auch kein Wort mehr von X-Akten sagen, falls sie das beruhigt."
"Sie Kretin!!!!! Sie gucken zuviel fern!!!!!" - Ich hörte wie der Hörer erst auf einige ziemlich aufgeregte Finger knallte und dann nach einem kurzen ‘Au!’ doch noch auf einer weit entfernten Gabel landete. Die Verbindung war unterbrochen. Ich wählte die Nummer erneut. Eine Automatenstimme behauptete, daß es keinen Anschluß mehr unter dieser Nummer gebe.
Jetzt wußte ich also endlich die Wahrheit. Das FBI leugnete alles, also mußte die Geschichte wahr sein: Ich war tatsächlich von Außerirdischen entführt worden.
Ich bereute, daß ich nicht auch noch nach der Wahrheit über die Ermordung JFKs gefragt hatte.

Am nächsten Tag wachte ich erst gegen Mittag auf. Ich war ausgezeichneter Laune. Es ist ein gutes Gefühl, wenn die Ungewißheit endlich Gewißheit gewichen ist. Beim Frühstück überlegte ich, wie ich weiter vorgehen sollte. Ich hatte keinerlei Erfahrung mit solchen Sachen.
Ich beschloß mich zunächst an einen Priester zu wenden und ihn um Rat zu fragen. Noch nie hatte ich geistigen Beistand gebraucht, jedenfalls noch nie von einem Geistlichen, aber da die Situation im Ganzen ganz neu für mich war, schien es mir nicht die schlechteste Idee zu sein.

Ich suchte mir eine alte katholische Kirche aus. Die Katholiken hatten die schlechtesten PR-Leute von allen populären Religionen - Vielleicht lag das ja nur daran, weil sie immer zuviele unliebsame Wahrheiten verbreiteten. Das mittelalterliche, gotische Gebäude war menschenleer. Ich schlenderte zwischen den Bänken hindurch in Richtung Altar und dachte darüber nach, daß die Kirchen vielleicht etwas voller wären, wenn sie vielleicht einmal etwas Geld für einen vernünftigen Innenarchitekten ausgeben würden, als ich eine Bewegung hinter einer Bank wahrnahm. Ich blieb gerade stehen um mir das genauer anzusehen, als sich aus dem Schatten der Bank eine Gestalt löste. Ein Mann in einem wallenden schwarzen Kleid wollte eben an mir vorbei in Richtung Ausgang stürzen. Er kam nicht weit. Ich stellte ihm reflexartig ein Bein und er schlug lang hin. Ich setzte mich rittlings auf ihn rauf und fragte ihn, was er da zu tun gedachte.
"Das geht sie überhaupt nichts an", knurrte die Schwuchtel.
"Sagen sie bloß, sie sind einer von ihnen", knurrte ich zurück. Der Mann erstarrte.
"Aber ich dachte, daß sie..."
Er schien auf meiner Seite zu sein. Ich erhob mich und half dem Mann, ebenfalls aufzustehen.
"Sie wissen also ebenfalls Bescheid", fragte ich ihn.
Die Schwuchtel, die sich bei näherem Hinsehen als Priester entpumpte, klopfte sich den Staub von seinem Kleid, welches sich (ebenfalls erst bei näherem Hinsehen) als Talar erwies.
"Natürlich weiß ich Bescheid! Die Freimaurer übernehmen die Weltregierung!"
Ich wägte seine Antwort kurz ab. "Die Freimaurer??"
"Oh, das meinen sie nicht." - Er dachte kurz nach. - "Ach, ich verstehe! Sie spielen auf die jüdische Weltverschwörung an, nicht wahr?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Die Black Panther? Scientology? Ökologen? Großindustrie?"
Ich schüttelte weiter meinen Kopf. Mir schien, daß der gute Mann etwas hysterisch war.
"Mystiker? Atheisten? Journalisten? Einzelhändler? Kleintierzüchter?"
Ich unterbrach ihn: "Als nächstes wollen sie mir noch erklären, daß es eine katholische Weltverschwörung gibt, was?"
Er schnaubte verächtlich. "Wer hat ihnen denn den Blödsinn erzählt! Absurde Idee..."
Ganz im Gegensatz zu einer Verschwörung der Einzelhändler und Kleintierzüchter, natürlich.
"Kommen sie mal runter, Mann! Es geht um Außerirdische", erklärte ich ihm etwas unbeherrscht.
Er hielt kurz inne, zog mich zu sich ran und flüsterte: "Natürlich meinen sie die Außerirdischen! - Sprechen sie nicht so laut!" - Er ließ mich wieder los und ging schnellen Schrittes in Richtung einer antiken Telephonzelle, die merkwürdigerweise in einer Ecke der Kirche stand. Ich bin kein Freund von sonntagmorgendlichen Comedy-Veranstaltungen, die sich durch sogenannte Kirchensteuer finanzieren lassen, so lernte ich erst heute, daß die Telefonzellen in Kirchen Beichtstühle genannt werden und für zwei Personen ausgelegt sind. Dafür haben sie kein Telefon eingebaut. Man kann sich darin höchstens mit seinem Gegenüber unterhalten, und daß auch nur durch ein vergittertes Fenster. Ich setzte mich also auf die kleine Bank, die ich in meinem Teil des Beichtstuhls vorfand und wartete, was passieren würde. Kurz zuvor hatte der Priester mich aus der anderen Kabine des Beichtstuhls herausgeworfen, weil er meinte, daß ich auf diese Seite gehörte, was ich nicht sehr höflich fand. Auf seiner Seite gab es nämlich einen richtigen Stuhl, mit Armlehne! Ich war etwas eingeschnappt deswegen und meine Laune wurde nicht eben besser, als der Priester mich ‘Sohn’ nannte und mich bat, ihm von meinen Sünden zu erzählen.
"Hallo!? - Ich glaube, sie haben da was falsch verstanden! Ich bin nicht ihr Sohn und meine Sünden gehen sie gar nichts an", gab ich zerknirscht zurück.
"Oh, äh, ja! Das hatte ich beinahe vergessen! Erzählen sie mir von ihrem Erlebnis."
Ich erstattete ihm Bericht.
"Was halten sie davon", fragte ich ihn
"Oh, das klingt alles sehr vernünftig", sagte er.
Ich wußte nicht, was ich auf die Worte eines Verrückten in einem Kleid geben sollte, aber ich fühlte mich ein bißchen verstanden. "Ist ihnen etwas ähnliches auch schon passiert?"
"Oh, ja! Ich habe einige Narben an Stellen, von denen man vor Damen nicht spricht! Bei den meisten von ihnen weiß ich schon, wo sie herkommen, aber bei einigen... Ich bin überzeugt, daß Sie es gewesen sein müssen!"
Er schob einige zusammengerollte Photos durch das Gitter, das in das Fenster zwischen unseren Kabinen eingelassen war.
"Sehen sie sich mal diese Bilder an!"
Auf allen fünf Photos war eine verschwommene, kugelrunde Gestalt zu erkennen, deren Gesicht durch eine wuchtige Sonnenbrille und gigantische Kotletten fast vollständig verdeckt wurde.
"Sie sollten sich mal eine neue Kamera zulegen", bemerkte ich.
"Aber sie erkennen ihn doch, oder?"
"Wen?"
"Na, den King! Ich habe bei meiner letzten Entführung eine Kamera dabei gehabt. Ich war zwar die ganze Zeit bewußtlos, aber als ich aufwachte war der Film in der Kamera voll und diese Bilder waren drauf!"
Ich versuchte mir kleine, grüne Männchen vorzustellen, die dem bewußtlosen Priester die Kamera wegnahmen und verwackelte Photos von Elvis schossen. Vielleicht unterhielt ich mich doch mit der falschen Person.
"Hören sie, können sie mir vielleicht einen Experten empfehlen, der mir etwas über die Motive der Aliens sagen kann? Ich möchte gerne mehr über sie erfahren."
Ich hörte einen Stift über Papier kratzen.
"Haben sie von der Versicherung gegen Entführung durch Außerirdische gehört? Hier haben sie zwei Adressen: Die Anschrift der Versicherung und die Anschrift des Mannes, der als erster Ansprüche geltend machen konnte." - Er schob mir den Zettel durch das Gitter.
"Die Wirklich-Ehrliche-Versicherung", las ich laut (war das nicht ein Widerspruch in sich?), "und Herr Erik von Schwediken."
"Gute Adressen, vertrauen sie mir!" - Ich dankte ihm und verabschiedete mich.
Als ich Kirchentür hinter mir zuviel und ich wieder im warmen Sonnenlicht stand sah ich noch einmal auf den Zettel. ‘Trauen sie niemandem!’ stand da noch geschrieben. Ich seufzte. Mein Leben war nicht eben einfacher geworden.

Nach dem ich die Versicherung abgeschlossen hatte (was nur eine 5.000DM-Formsache in einem von Menschen überfüllten Büro in einer schlechten Wohngegend war) suchte ich Herrn von Schwediken auf.
Ein ungepflegter Mann in einem schlecht sitzenden Anzug öffnete die Tür. Er hatte blau-gepunktete Boxershorts auf dem Kopf und schielte leicht.
"Entschuldigen sie, ich hätte wohl besser vorher anrufen sollen", stotterte ich und wich von ihm zurück.
Von Schwediken rollte furchterregend mit den Augen und bevor ich reagieren konnte, hatte er mich schon gepackt, in seinen Flur gezerrt und die Eingangstür mit etlichen Sicherheitsschlössern verriegelt. "Sind sie einer von ihnen?"
Ah, vertrautes Terrain! - "Also, ich bin kein Freimaurer, Jude, Black Panther, Scientologe, Ökologe, Großindustrieller, Mystiker, Atheist, Journalist, Einzelhändler oder Kleintierzüchter und glaube nicht an die Existenz einer dieser Gruppen. - Halt, Moment! O.k., ich lese gelegentlich das Horoskop in der Zeitung, mehr Mystik gönne ich mir nicht. Die Existenz des Einzelhandel kann ich wohl auch nicht ganz verleugnen. Und ich bin eigentlich auch Atheist, aber ich schwöre, daß ich von keiner Weltverschwörung weiß!" - Ich versuchte, etwas zu Atem zu kommen.
Von Schwediken klopfte mir beruhigend auf die Schulter und führte mich in seine Küche, wo er mir erstmal Platz und eine Tasse Kaffee anbot. Ich akzeptierte beides gern.
"Der verrückte Priester hat sie geschickt, nicht wahr?"
Ich seufzte. - "Ihnen kam er auch merkwürdig vor? Die Geschichte mit den Photos von Elvis..."
"Oh, nein", unterbrach er mich. "Das ist natürlich wahr! Aber seine Idee, daß es keine Verschwörung der katholischen Kirche gäbe, ist natürlich vollkommener Quatsch!"
Er rührte gedankenverloren in seinem Kaffee.
"Hören sie, Herrn von Schwediken: Ich bin zu ihnen gekommen, weil ich von Außerirdischen entführt worden bin!" - Wieder erzählte ich meine Geschichte.

Er rutschte die Boxershorts zurecht, die ihm etwas über die Augen gerutscht waren und betrachtete weiter meine Narben.
"Sehr interessant! Ja, da läßt sich was draus machen", grummelte er in sich rein.
Ich ignorierte diese Bemerkung.
"Hören sie", sagte ich, "ich bin auf der Suche nach einer Erklärung! Ich bin entführt worden und jetzt möchte ich wissen, welche Lehre ich aus diesem Erlebnis ziehen kann."
"Beruhigen sie sich! Das ist doch ganz normal." - Es war das erste mal, das ich das Wort ‘normal’ in diesem Zusammenhang hörte.
"Ich sage ihnen, was der Sinn des Ganzen ist: Talkshows und Interviews in der Boulevardpresse!" - Ich verschluckte mich an dem Schluck Kaffee, den ich gerade zu mir genommen hatte.

"...Und hier ein weiteres Foto von mir bei den Dreharbeiten zu einer Reportage über mich. Es zeigt mich auf dem Gelände einer antiken UFO-Landebahn im Amazonasdelta."

"Woher wissen sie, daß das wirklich ein Alienflughafen war?"
"Sehen sie denn nicht das Schild dort im Hintergrund?" - Ich sah genauer hin. Tatsächlich war da ein Schild, auf dem ‘Terminal 3' geschrieben stand. Mehrere Richtungspfeile deuteten in die verschiedensten Richtungen, die meisten von ihnen waren entgegen-gesetzt. - Wie auf einem wirklichen Flughafen! Ich war verblüfft.
"Natürlich habe ich das Schild selbst dort aufgestellt."
"Wie bitte??"
Er sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. "Natürlich! - Wäre ich sonst in diese Reportage und umsonst nach Brasilien gekommen?"
"Aber, aber... - Das ist Betrug!"
"Nein, nein, nein! Sie haben immer noch nicht verstanden! Wir müssen die Welt aufklären! Garantiert waren irgendwann mal Ufos da, und es kommt doch nur darauf an, daß wir der Menschheit mitteilen, daß Sie da draußen sind!" - Ich beruhigte mich wieder etwas.
"Außerdem: Wie könnte ich mir sonst als Arbeitsloser so ein schönes Haus leisten?"

"Jetzt haben sie die Adressen von fast allen wichtigen Talkshows." - Er geleitete meine desillusionierten Überreste zu seiner Haustür - "Verbreiten sie die frohe Kunde und sie werden sehen, man wird ihnen zuhören! Ach, ja: Vergessen sie meine Tantiemen aus den Einkünften aus den ersten zwanzig Sendungen nicht!"
"Herr von Schwediken, eine Frage habe ich noch."
"Schiessen sie los!"
"Warum haben sie Boxershorts auf dem Kopf?"
"Tja", seufzte er, "das Geschäft wird immer härter, man muß sich etwas einfallen lassen, um aufzufallen. Ich erwarte das Kamerateam eines Sex-Magazins. Sie wollen eine Reportage über Außerirdischen Fetischismus drehen und ich habe ihnen erzählt, daß ich von meiner letzten Entführung ganz neue, bisher unbekannte Eindrücke mitgebracht habe!" - Er deutete auf seinen Kopf und grinste schelmisch.

Ich wußte nicht mehr, was ich glauben sollte. Wie verhielt es sich nun mit den Außerirdischen? War ich wirklich entführt worden und war ich nur ein Opfer der ‘Akte X’-Hysterie. Ich tat das, was ich schon die ganze Zeit hätte tun sollen: Ich ging in die Kneipe, heulte mich aus und nahm eine unheilvoll große Menge Gerstensaft zu mir.
Als ich mich auf dem Heimweg befand, war ich mir über einiges im Unklaren, zum Beispiel darüber, ob das wirklich mein Heimweg war. Andere Sachen wiederum waren mir endlich vollkommen klar: Erstens müßte ich in Zukunft vorsichtiger im Umgang mit scharfen Gegenständen sein, dann würde ich auch weniger Narben davontragen, zweitens werde ich nie wieder Akte X sehen, damit ich nie wieder an so einen Blödsinn wie meine eigene Entführung durch Marsianer glaube. Es gibt bestimmt außerirdisches Leben irgendwo im All, die außerirdischsten Wesen sind aber immer noch hier auf der Erde zu finden...

Als ich am nächsten Morgen aufwachte waren die Kopfschmerzen kaum zu ertragen. Ich schleppte mich ins Bad und duschte erstmal eiskalt. Danach ging es mir sehr viel besser. Als ich dann am Frühstückstisch saß und einen besonders starken Kaffee zu mir nahm entdeckte ich etwas merk-würdiges: Neben den beiden bekannten Narben an meiner Hand war eine neue. Sie glänzte silbrig und irgendwie übernatürlich.
"Oh, nein, nicht schon wieder", dachte ich. Ich beschloß, sie einfach zu ignorieren. Die Geschichte sollte sich nicht wiederholen.
Eine Woche später bekam ich mit der Post Photos von Elvis und mir in einem Raumschiff zugeschickt. Der King ist wesentlich schlanker geworden und sah viel jünger aus, als er eigentlich war. Die Backgroundsängerinnen waren grün, hatten drei Augen und spitze Ohren.
Ich lachte laut und warf die Photos weg. Ich werde da nicht noch einmal drauf reinfallen. Jeder weiß, daß Elvis durch Einkaufszentren und Tankstellen im ländlichen Amerika tourt und nicht durchs All fliegt.
Ich blinzelte aus dem Fenster in den stahlblauen Himmel.
Ich weiß, die Wahrheit ist irgendwo da draußen...


Zaphod / h.l.v.s.-productions 1997

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