Wiedergeburt

Der Name sagt alles! - Hier gibt es das Neueste vom Neuen aus unserer Feder, wenn es auch alles noch aus dem letzten Jahrtausend ist... - Die jüngsten Kinder sind häufig genug auch des Schriftstellers liebste, weil beste, also: Enjoy!

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Wiedergeburt

Beitragvon admin » 02.12.2003, 01:00

An meinem zwanzigsten Geburtstag schwang ich mich gutgelaunt in meinen Kübelwagen und fuhr in die Stadt.
Der Himmel war blau, meine Laune gut und das Leben im Großen und Ganzen granatenstark. Ich überquerte die Hochbrücke und hatte das Arbeitsamt schon fast passiert, als eine ältere Frau in einem japanischen Kleinwagen, die in einer Ausfahrt lauerte, beschloß, Gas geben zu müssen. Sie fuhr direkt vor mir auf die Straße.
Ich stieg mit aller Kraft in die Bremsen, aber ein Kübel ist nicht gerade mit Servobremsen ausgestattet. Ich fuhr der Frau in ihren knautschzonenfreien Kleinwagen und tötete sie augenblicklich.
Das Letzte, was ich sah, war ihr überraschter Gesichtsausdruck, dann wurde mein Kopf durch den Aufprall gegen das Armaturenbrett geschleudert, mein Genick brach und ich starb.

Als ich die Augen wieder öffnete bewegte ich mich durch einen langen Tunnel.
Es war angenehm warm und ich fühlte mich sicher und geborgen. Immer schneller raste ich weiter. In der Ferne erkannte ich ein wunderbares Licht. Dann faßte ich für eine Sekundenbruchteil einen einzigen klaren Gedanken und ich dachte: "Hey, Moment mal! Ich durchlebe hier doch nicht etwa den Bilderbuchtod von diesen Esoterikfritzen, oder?" - Daraufhin gab es einen lauten Knall und der Tunnel war verschwunden.
Ich saß in der Küche meiner Oma, die gestorben war, als ich fünf war. Meine Oma hatte mir den Rücken zugewandt und war damit beschäftigt Tee zu kochen. Ich steckte mitten in der typischen "Abendbrot bei Omi"-Situation, die mir in aller Intensität in Erinnerung geblieben war, obwohl ich noch sehr klein war, als ich bei ihr zuletzt Abendbrot gegessen hatte. Das Radio spielte, leise, alte Schlager aus den dreißiger Jahren.
"Du trinkst doch jetzt sicher auch Tee, oder, Nils?" - Sie drehte sich um und musterte mich liebevoll und ich fühlte mich wieder sehr klein und behütet. "Groß bist Du geworden", sagte meine Omi und lachte über sich selbst, weil sie diesen Klischeesatz verwendet hatte. Sie nahm die Teekanne und setzte sich zu mir an den kleinen Küchentisch am Fenster.
"Ich habe dir Leicht&Kross gekauft, mein Kleiner", sagte sie und reichte mir das Knäckebrot, daß es schon seit bestimmt zehn Jahren nicht mehr zu kaufen gab. Ich nahm mir eine Scheibe und bestrich sie mit Butter. Dann verteilte ich darauf eine große Menge Teewurst, genau wie ich es früher getan hatte. Gedankenverloren und glücklich kaute ich und sah dabei aus dem Fenster. Ich war eindeutig gewachsen: ich mußte mich jetzt nicht mehr recken, um aus dem Fenster zu sehen!
Draußen vor dem Fenster sah alles aus, wie früher: Das kleine Stück Rasen vor dem Haus, die Kreuzung, der Zebrastreifen und die gelbe Straßenlaterne, die darüber hing und die Dunkelheit in ein gespenstisches Licht tauchte. Dann fing es an zu schneien und ich spürte die alte Begeisterung aus Kindertagen, als der Schnee sich in der gelben Straßenbeleuchtung verfärbte und lachte fröhlich.
Meine Omi strich mir über die Hand und sagte: "Guck nicht ständig nur aus dem Fenster! Iß, damit du groß und stark wirst!" - Sie schmierte mir noch ein Knäckebrot mit Teewurst und ich aß begeistert. Ich fühlte mich so sicher und geborgen, wie es sonst nur Kindern vergönnt ist. Als ich aufgegessen hatte und satt und zufrieden aus dem Fenster sah, wurde meine Omi plötzlich unruhig. Sie rückte auf ihrem Sitz hin und her und sah immerzu auf die Uhr, die hinter mir an der Wand hing.
"Hast du auch genug gegessen?"
"Ja...", sagte ich zufrieden.
"Das ist gut, denn du mußt jetzt leider wieder los, Nils!"
"Ich will aber nicht!"
"Doch", sagte meine Omi bestimmt, mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, "du kannst ja später wiederkommen!"
Widerwillig erhob ich mich, meine Omi half mir dabei, mich anzuziehen, was sehr komisch ausgesehen haben muß, da sie zwei Köpfe kleiner war, als ich. Sie knöpfte mir die Jacke zu und rückte mir den Kragen zurecht, wie nur Omis es tun, und umarmte mich.
"Pass´ gut auf dich auf, mein Kleiner! Wir sehen uns später!"
Mir standen die Tränen in den Augen und ich wußte nichts zu antworten, also umarmte und drückte ich sie nur. Meine Omi summte beruhigend und versuchte ihren großen Enkel hin und her zu wiegen.

Ich hörte die Bremsen quietschen und riß das Lenkrad nach rechts.
Gerade rechtzeitig öffnete ich die Augen, um zu sehen, daß ich auf diesem Weg die Frau kaum verfehlen würde und außerdem auf eine Bushaltestation zuhielt, vor der eine Gruppe von Leuten mit weit aufgerissenen Augen in meine Richtung starrte. Der Kübel hat noch die alten Trommelbremsen, die nie ganz rund sind. Deswegen bremst er etwas stotternd und bleibt dadurch auch bei einer Vollbremsung noch lenkbar.
Die Frau hatte mittlerweile Vollgas gegeben und den Weg geräumt. Ich riß das Lenkrad erneut herum, verließ den Bürgersteig wieder und kam mit quietschenden Reifen und abgewürgtem Motor vor der Bushaltestelle zum Stehen. Ich zitterte fürchterlich. Mein Puls schlug bis zum Hals und Übelkeit stieg in mir auf. Benommen stieg ich aus dem Auto und wankte auf den Bordstein zu, wo meine Beine nachgaben und ich mich schleunigst setzte.
Aus den Augenwinkeln sah ich den Kleinwagen der älteren Frau über die Brücke verschwinden. Sie hatte nicht mal angehalten. Einige Leute applaudierten und zwei kamen zu mir und fragten mich, ob mit mir alles in Ordnung sei.
Ich versuchte meinen Atem wieder etwas unter Kontrolle zu bringen, bevor ich antwortete.
"Danke, ja", stammelte ich. "Heute ist nämlich mein Geburtstag, wissen sie!"

(c) by zAphod / h.l.v.s.in 1998

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