Verpaßt - Weihnachtsgeschichte '98

Der Name sagt alles! - Hier gibt es das Neueste vom Neuen aus unserer Feder, wenn es auch alles noch aus dem letzten Jahrtausend ist... - Die jüngsten Kinder sind häufig genug auch des Schriftstellers liebste, weil beste, also: Enjoy!

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Verpaßt - Weihnachtsgeschichte '98

Beitragvon admin » 02.12.2003, 00:47

24.12.; 8.00 Uhr, morgens:
Die duestere Decke des Himmels machte auch in diesem daemmrigem Licht nicht annaehernd Anstalten, preiszugeben, ob es entweder Sonnenschein zum Festabend, oder vielleicht sogar Schnee geben wird. In den letzten Jahren war Weisse Weihnacht sowieso immer mehr zu einem Mythos zu verkommen, so dass es bald keine Menschen mehr geben wuerde, die das selbst mal erlebt hatten.
Die Welt erhob sich langsam aus ihrem Schlaf und es war, wie jedes Jahr, wieder diese ganz typische Stimmung in der Luft, die es nur am Morgen des Heiligabends gab. Doch trotz dieser Stimmung, welche die Welt wie Weihrauch einhuellte, gab es noch jede Menge zu tun!

Magda Schmitt hatte sich dieses Jahr, an dem Tag der Wunder, sprich Heiligabend, ihren Terminkalender derart vollgestopft, dass es an einem Wunder grenzen wuerde, wenn sie all diese Dinge auch tatsaechlich schaffte.
- Immerhin hatte sie ihren kleinen Sohn bereits bei ihrer Schwester abgeliefert, damit sie nicht in der Einkaufsstrasse noch von dem Kleinen aufgehalten werden wuerde. Das der Kleine waehrend ihrer Abwesenheit bei ihrer Schwester noch an diesem Nachmittag den Baum in Brand setzen wuerde, wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Und dass ihre Schwester samt Familie die naechsten Wochen in ihrer kleinen zwei Zimmerwohnung hausen wuerden, ebenfalls nicht. Ein Tag der Wunder, doch gehen wir chronologisch vor.

Magda hatte ihr Auto in der Innenstadt geparkt und stand nun fuer kurze Zeit verwirrt in einem Gedraenge, wie sie es zuletzt in einem UEberfuellten Fahrstuhl erleben durfte. Sie kramte hektisch in ihren Taschen und zog, nachdem sie von einer aelteren Dame angepoebelt worden war, weil sie ihr den Weg versperrte, die ihren Enkeln noch eben ein Geschenk kaufen wollte und nicht ganz wusste, wie sie am besten die Plastikrutsche durch die Einkaufszone bekommen sollte. In eben jenen verzweifelten Moment hatte Magda halt gemacht und die Dame war foermlich in sie hineingelaufen.
Sie schimpfte wild, was bei der akustischen Untermalung durch aus den Lautsprechern droehnenden und leicht verzerrten 'Jingle Bells'-Klaengen, sowie einem permanenten ge-Ho!Ho!Ho!he von einem dicken, roten Mann mit Whiskyflasche, der fuer die armen Investmentbanker sammelte, sehr anmutend und weihnachtlich wirkte.
Magda haette sie am liebsten, in einem unbeobachteten Moment vom Kantstein geschubst, wusste aber, dass es zu viele Zeugen gab, deshalb unterliess sie es und scherte sich einfach nicht weiter um sie.
Sie konzentrierte sich voll auf ihren Zettel und kontrollierte die Uhrzeit: 8.05 Uhr. Die Laeden haben seid 5 Minuten auf. Ein Blick auf die Liste: Braten kaufen, Friseur, etwas Unleserliches, Geschenk fuer Bert...

Sie versuchte sich zuerst im Supermarkt. Fuer sie, wie jedes Jahr Weihnachten, ein Trip durch die Hoelle. Zwei Frauen schlugen sich bereits um den letzten tiefgefrorenen Entenbraten und eine Meute umlagerte eine koboldhaft wirkende Verkaeuferin, die eben runtergesetzten Suesswaren aus dem Lager brachte.

Am Schwarzen Brett der Mitarbeiter eines jeden Ladens, der am Heiligabend geoeffnet ist, haengt ein Hinweis auf die 13.00 bis 16.00 Uhr Therapiegruppe fuer Weihnachtsgestresste. Es gibt auch einen Fortgeschrittenenkurs: Suizid am Heiligabend!? - Denken auch sie an ihre feiernden Mitmenschen.
Der Sinn eines Supermarktes sei noch einmal dargelegt. Es ist eine Quelle von Nahrungsmitteln, die in ihrer Zusammenstellung in der Kueche durchaus wohlschmeckende Leckereien ergeben koennen.
Mit eben jenem Ziel vor Augen hatte sich auch Magda psychologisch auf den Einkauf vorbereitet, um ihre Einkaeufe auch moeglichst effektiv zur Kasse schleusen zu koennen. Das Menue, was sie im Kopf hatte, kristallisierte sich bereits in der Obst und Gemueseabteilung als unmoeglich machbar, also trat Plan B in Kraft: Kauf alles, egal was, Hauptsache es ist essbar. Sicher ein Ziel, was nicht unmoeglich zu erfuellen sein sollte, wenn man an die Moeglichkeiten der modernen Tiefkuehltruhe denkt.
Ihren leicht hakenden und durch die Gegend schlingernden Einkaufswagen hatte sie dank jahrelangem Training im Supermarkt (damals, gestern... - als es noch fast leer war) gut im Griff und fuhr nur dem jungen Mann ueber die Fuesse der unachtsam versucht hatte, die letzten Aufbackbroetchen aus dem Lager ins Regal zu bekommen, was ihm nur schwerlich gelang, denn staendig rissen ihm die Kunden das Paket aus der Hand, ohne, dass die Broetchen das Regal je zu Gesicht bekamen.
Der junge Mann hatte ein kraeftiges Herz und keine Kreislaufprobleme, so dass er recht gelassen auf die Attacken reagierte. Ein etwas kraenklicher Mensch, der dort arbeitete, waere sicher und sehr zum AErger des Personalchefs, schon vor der Mittagspause ausgefallen.
Magda kaempfte sich weiter durch und hatte bis zur Fleischtheke immerhin schon eine Dose abgelaufener Ravioli im Einkaufswagen. Die unter dem Regal liegende Dose Bohnen war bereits mit einer Staubschicht belegt, so, dass Magda auf sie verzichtet hatte...

Die Fleischtheke war derart umlagert von Panikkaeufern, die sogar das grosse Warnschild "Wir haben nur englisches Rindfleisch!" missachteten und diesen Rindern sogar die Knochen entnehmen und das Grosshirn als Lochkaesevariante in ihrer Suppe schwimmen lassen wuerden.
Der Supermarkt war nicht ganz auf diese Massen eingerichtet, die an diesem Tag versuchten ihr letztes Geld in die Wirtschaftsfoerderung zu pumpen. Immer wieder hoerte man ein vertroestendes "Probieren sie es doch im Supermarkt fuenf Kilometer weiter!", denn dies war in dieser Stadt der einzige Supermarkt in der Innenstadt. Allen anderen waren schwerer zu erreichen.
Da fast alle Menschen den Plan hatten ihren Supermarktsgang mit den letzten Besorgungen zu kombinieren, wurde aus diesem Geschaeft beinahe ein Krisengebiet.
Als Magda endlich ihre kuemmerlichen Einkaeufe raustrug, ueberlegte sie schon ihr weiteres Vorgehen.
Jetzt hatte sie nur noch 15 Minuten fuer den Friseur, sonst koennte sie den Baum nicht mehr besorgen. Eilig hastete sie durch die Menschenmasse, einer sehr grimmig dreinschauenden Masse, der man ansah, wie wenig Spass sie hatte und die wahrscheinlich gemeiner war, als der wuetende Mob, der letztens die Regierung von Kongo gestuerzt hatte.
Man sollte es definitiv vermeiden diese Menschen zu reizen, denn wenn sie erst einmal aufbegehrten, waere die Weltordnung in Gefahr!

Aber Magda hatte ja einen Termin! Diesmal hatte sie vorgesorgt und so wusste sie, dass sie es schaffen koennte. Friseure gehoeren, wie jede andere Berufsgruppe, die sich am Heiligabend freundlich um die Beduerfnisse ihrer Kunde kuemmerte, zu den sehr, sehr ueberarbeiteten Menschen. Eine komplette Arbeit sollte in zehn Minuten statt in den normalen zwei Stunden erledigt sein. Jede weitere Minute wuerde weniger Trinkgeld oder gar eine Schadensersatzklage nach sich ziehen.
Magda haette es gleich aufgeben sollen. Jede Menge Dauerwellenfanatikerinnen ohne einen Termin, blockierten den Eingang und VERLANGTEN eine sofortige Behandlung, da ja heute abend die Schwiegermutter vorbeikaeme, und so weiter. Die Chefin des Ladens hatte resigniert und war gefluechtet. Mehr zu ihrer Flucht konnte man im Radio des Friseurladens hoeren, das auf den Polizeifunk eingestellt war.
Also musste sie sich was anderes ueberlegen. Immerhin war da ja noch der Baum, der besorgt werden musste und ferner brauchte sie noch etwas Unleserliches, was auch immer das war. Sie hatte es schlichtweg vergessen.

Da sie eh noch Geld brauchte - Naturhoelzer in schillernden Gruentoenen waren teuer geworden - steuerte sie schnurstracks auf die naechste Bank zu.
Etwas Unvermutetes passierte ihr, als sie das pompoese Gebaeude betrat. Sie fuehlte sich, als waere sie in Disneyland und dort direkt an der Lohnkasse. Staendig klangen diese Handglocken auf, die die roten Maenner alle dabei hatten, waehrend sie darauf warteten, dass die Schlange roter Maenner vor ihnen endlich dran kam.
Die Welt war sehr merkwuerdig geworden in den letzten Jahren, wie Magda fand.
Weihnachtsmaenner, die anstatt Schoko-Lollies zu verteilen, Schlange am Schalter in der Bank standen, um ihr gesammeltes Geld nicht etwa den Beduerftigen zukommen zu lassen, sondern, um am letzten Arbeitstag ihres Arbeitsjahres alles so zu arrangieren, dass man den Rest des Winters gut auf Malllorza(tm) verbringen konnte.

Um 11.30 Uhr kam Magda kam voellig fertig zurueck nach Hause.
Doch Ruhe war ihr einfach nicht vergoennt. Waehrend sie sich daran machte, sich ein gutes Rezept zu suchen, zudem Ravioli auch passten, bescherte ihr die Tuerklingel in einer Art konfessionellen Rhythmus ein anderes Geschenk: Von Jesuitenmoenchen bis zu den Zeugen Jehovas ("Ich war dabei!") waren sie alle da, um Geld, geistigen Segen oder aehnliche weltfremde Dinge zu geben oder zu fordern.
Selbst den Zeitungsabonnentenverkaeufer an diesem Morgen hatte Magda zu den Zeugen Jehovas gesteckt und ihm unverbluemt klar gemacht, dass seine Kollegen gerade da waren, worauf hin sich der Zeitungsjunge sein Handy schnappte und den brutalen Boss seiner Drueckerkolonne anrief, der dafuer sorgte, dass die Kollegen im angrenzenden Revier Weihnachten im Strassengraben verbrachten und dabei hofften, ein Passant wuerde sie entdecken, um sie ins Krankenhaus zu bringen...

Wie gesagt: das Fest der Liebe, auch fuer Zeitungsaboverkaeufer.
Das Telefon klingelte und Magda hatte ihren Pfarrer dran, der hoffnungsvoll fragte, ob sie denn zur Messe heute abend kaeme und falls ja, zu welcher Zeit es ihr denn am Besten passen wuerde. Dieses Jahr wuerden ausser der Busladung aus dem Altersheim niemand kommen und denen waere es egal, wann sie anfangen wuerden. Magda waere seine letzte Hoffnung, ueberhaupt eine Messe zu halten, denn vor einer Gruppe von Alzheimerkranken machte es ihm keinen rechten Spass. Magda war sehr verstaendnisvoll, nahm Anteil an dem Schicksal ihrer Gemeinde und sagte ab.

Im Laufe der folgenden 3 Stunden putze Magda die komplette Wohnung, schminkte sich, machte sich dann wieder schoen, stellte den Baum auf und schmueckte jenen. Dann bereitete sie ein tolles Essen auf Ravioli-Basis vor und letztendlich verpackte sie auch noch die Geschenke.
Als sie erschoepft auf die Couch fiel und ueberlegte, was sie noch vergessen hatte, hoerte sie, wie jemand versuchte das Schloss zu oeffnen, allerdings mehrmals daran scheiterte. Ihr Mann war zurueck. Nach einigen Versuchen ging die Tuer doch auf und ihr Mann, voll wie tausend Russen, wankte herein. "Schatz, wir haben noch ein wenig Weihnachten gefeiert in der Firma, saeuselte er, als sie ihn im Flur traf und wo er ihr gleich entgegenfiel, weil er leichte Gleichgewichtsprobleme hatte.
Muehselig schleppte sie ihn zur Couch und liess ihn darauf fallen. "Klasse, schoen warm... toll", murmelte er und schlief sofort ein.

Na gut, sollte er noch eine Stunde schlafen, dann war aber Weihnachten.
Hatte sie nun alles? - Oh, ihr Sohn, der musste ja noch her. Noch bevor sie weiterdachte, klingelte es bereits an der Tuer. Ihre Schwester samt Koffer und ihrem Sohn stand vor der Tuer.
"Die Feuerwehr hat uns rausgeholt. Ich bleibe erstmal bei dir.", meinte sie und trat ein.
Magda war geschockt. So gern hatte sie ihre Schwester nun auch nicht. Aber wenn ihr Sohn daran Schuld war, dann musste sie sie wohl einlassen...
"Hier ist es immer noch besser als bei Mutter", meinte ihre Schwester und trat ein. Sie stellte ihren Koffer hin und griff sich das Telefon. Magdas Schwester war einige Jahre juenger als sie und hatte im Gegensatz zu ihr keine feste Bindung. Allerdings hatte sie viele lose Bindungen und nun machte sich Sybill daran jeden ihrer Partner ueber die juengsten Geschehnisse aufzuklaeren.

Das konnte ja heiter werden, dachte Magda.
Ihr Sohn hingegen tat unschuldig und machte sich bereits ohne ein Anzeichen von Reue an ihrem Baum zu schaffen. - Es wurde auch langsam Zeit fuer die Bescherung!

Ihr Mann schnarchte, der Sohn bruellte aus ganzer Kehle und Sybill war vom Telefon nicht wegzubekommen, als Magda das Essen reintrug und hoffte, dass nun endlich weihnachtliche Stimmung aufkaeme. Vergebens.
Niemand ruehrte das Essen an, der Sohn schrie nur lauter, als er seine Geschenke auspackte und merkte, dass er nicht das bekam, was alle anderen Kinder im Kindergarten hatten.
Ihr Mann schnarchte immer noch gegen den Laerm an.

Sybill bat sich Ruhe aus, in einer Lautstaerke, dass die Nachbarn, die Weihnachten feiern wollten mit ihren Besen gegen die Wand haemmerten.

Naja, vielleicht klappt es ja naechstes Jahr, hoffte Magda, bevor sie sich in der Kueche einschloss und einige Flaschen Sekt leerte...

(c) 1998 by pat / two

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