Pünktlich

Die ersten ernstzunehmenden Geschichten von Pat und nils. Sie sind nicht mehr die Neuesten, und wer sie noch nicht kennt, sollte dringend mal reinsehen! - Die Print-Ausgaben sind gesuchte Raritäten geworden! Gesamtauflage der Print-Ausgabe: 60 Stück

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Pünktlich

Beitragvon admin » 01.12.2003, 23:59

Klaus hatte sich schon seit längerem auf diesen Tag vorbereitet, alles war wie es sein sollte. Das Reisebüro hatte sein Bahnticket ordnungsgemäß ausgestellt. Hundertachtzig Mark hatte es ihn gekostet, aber Klaus fand, daß er sich in diesem Fall nicht lumpen lassen dürfe. Ein Ticket erster Klasse sollte es schon sein.
"Bevorzugen sie einen Raucher- oder einen Nichtraucherplatz?"
Nichtraucher.
"Ein Nichtraucherplatz ist im 21.00h Zug leider nicht mehr frei. Für den 23.05h Zug könnte ich ihnen noch einen Platz reservieren?"
Klaus mußte überlegen. Eigentlich war er schon seit Jahren um diese Zeit im Bett, der Arbeit wegen, auch am Wochenende. Man gewöhnt sich so sehr daran, wenn man 20 Jahren am Fließband gestanden hat. Nach einigem Zögern überwand Klaus seine Bedenken und bestätigte der Sachbearbeiterin die Verbindung.
Er hatte schon seit Jahren in Gedanken mit dieser Reise gespielt.
Er wollte es durchziehen.
Die freundliche Frau stellte ihm sein Bahnticket aus und reichte es ihm.
"Gute Reise wünsche ich ihnen."
Danke.

* * *

Er hatte seinen Urlaub lange aufgespart. Wieviel Überstunden er geschoben hatte, um möglichst viel Zeit zu haben, wußte er nicht.
Er brauchte die Zeit. Er hatte sich diese Reise fest vorgenommen.
Die Idee dazu war ihm während der Arbeit gekommen. Auf einmal schaute er vom Fließband auf und hatte diese Idee - Eine Reise!
Eine schöne, eine lange Reise.

Die Idee überraschte ihn selbst, traf ihn unvorbereitet. All die Jahre stand er am Band. Nie war er krank. Urlaub nahm er nur, wenn seine Mutter Geburtstag hatte. Seit ihrem Tod vor acht Jahren hatte er keinen Urlaub mehr genommen. Er tat einfach seine Arbeit, tagein, tagaus und dachte dabei nie an sich selbst.
Er dachte eigentlich überhaupt nicht, jedenfalls nicht viel, nicht während der Arbeit und auch nicht zu Hause.
Sein Zuhause kannte er.
Seine Arbeit beherrschte er im Schlaf.
Schlief er etwa sogar während der Arbeit? - Möglich...

* * *

In seiner Wohnung hatte alles seinen festen Platz, schon seit Jahren: Der Kühlschrank, der Sessel, der Fernseher, das Bett.
Woher die Idee dieser Reise auf einmal kam, das wußte er nicht, aber sie war längst überfällig. Fünf Jahre schon war diese Idee langsam in seinem Kopf herangereift. Nach all den Jahren am Band endlich wieder etwas, was ihn wachrüttelte.
Langsam, sehr langsam wachte er aus seinem jahrelangen Tiefschlaf wieder auf und begann nun das erste mal seit Jahren wieder richtig nachzudenken.
Seine Kollegen machten Witze: "Klaus bricht über seiner Arbeit zusammen! Der ist wohl schon zu lange dabei!" , und: "Das Band hat wohl sein letztes bißchen Hirn davongetragen!!"
Sollten sie nur lästern. Er hatte endlich wieder einen klaren Gedanken gefasst, er würde ihn sich nicht mehr ausreden lassen!

Das Taxi war pünktlich um halb elf zur Stelle, wie bestellt. Viel zu früh, eigentlich, aber Klaus wollte keinen Fehler machen, nicht den Zug verpassen, weil er nicht rechtzeitig aufgebrochen wäre.Schnell legte er noch seinen alten Blaumann zuoberst in seinen Koffer, schloß diesen dann sorgfältig und bestieg das Taxi.
Er hatte der Nachbarin seinen Wohnungsschlüssel gegeben und sie gebeten, nach den Blumen zu sehen. Klaus traute ihr nicht recht über den Weg, aber ihm blieb nichts anderes übrig, irgend jemand mußte ja während seiner Abwesenheit nach dem rechten sehen.
Klaus vertrieb die trüben Gedanken über die Nachbarin. Die Dinge, die ihm wichtig waren lagen in seinem Koffer, was sollte die Nachbarin also anrichten können?

In seinem Koffer befand sich unter anderem sein Photoalbum: Photos von ihm und seiner Familie, aus glücklicheren Zeiten. Sein Vater, seine Mutter, seine Großeltern.
Ein Photo zeigte Klaus als Zehnjährigen wie er stolz mit einem Modellflugzeug posiert:
"Ich werde Pilot, Mama, dann fliege ich dich um die ganze Welt!"
"Bestimmt, Klaus," hatte seine Mutter geantwortet.

Das Taxi erreichte den Bahnhof.
Es war erst zehn vor elf, Klaus hatte noch genügend Zeit. Er gab dem Taxifahrer ein großzügiges Trinkgeld, nahm seinen Koffer und schritt über den Parkplatz in den Bahnhof. Er hatte noch genug Zeit. Er gab den Koffer bei der Gepäckaufbewahrung auf und verstaute den Gepäckschein gewissenhaft in seiner Brieftasche.
Er fragte einen Bahnbeamten ob der Zug auch pünktlich sein würde. „Natürlich, mein Herr, der Zug wird pünktlich sein."

Er schaute hoch zur großen Bahnhofsuhr. Es ist noch genug Zeit, befand Klaus. Er verließ den Bahnhof und schlenderte den Bahndamm entlang. Er dachte nach - über seine Reise.
Und über seine Mutter. Sie hatte den Glauben an ihn nie aufgegeben.
"Du schaffst es noch, Klaus, du wirst noch Pilot, dann fliegst Du mich um die Welt! Das Fließband ist nur eine Übergangslösung."
Keiner hatte nach ihrem Tod noch an ihn geglaubt.
Jetzt hatte er wieder ein Ziel, die Reise.

Klaus hatte seinen alten Blaumann dabei.
Es war sein allererster Blaumann. Bei der Anprobe, ganz zu Beginn seiner Arbeit am Band schaute der Vorarbeiter Klaus an und sagte: "Der paßt dir doch nicht richtig, der ist doch viel zu kurz."
"Das ist schon o.k., ich mache den Job doch bloß zum Übergang..."
Der Vorarbeiter hatte gelacht.
Das war nicht so schlimm. Schlimm war, daß er recht behielt.
Klaus hatte seinen ersten Blaumann aufbewahrt, er wußte selbst nicht warum. Mittlerweile hatte er schon einige Neue gehabt die besser paßten. Er hatte viele Neue gehabt, zu viele.

Er hielt auf einer Brücke, die über die Schienen führte. Starker Wind zerraufte ihm die Haare. Der Bahnhof leuchtete in der Nacht und von der Ferne sah er aus wie ein Spielzeug. Es überraschte Klaus, wie weit er gelaufen war. Er war nie ein großer Spaziergänger gewesen.
"Die Reise macht das," schrie er gegen den Wind. Er lachte, fast fröhlich. Sein Anzug saß, sein Koffer war gepackt, die Blumen waren versorgt - Für einen kurzen, panikerfüllten Moment dachte er, er hätte seinen Fahrschein verloren, dann fand er ihn, in der Innentasche seines Jacketts.


Er schaute auf die Uhr: 23.04h.
Klaus sah die Lichter eines Zuges in der Dunkelheit schnell näher kommen. Wind zerraufte seine Haare. Das mußte er sein, sein Zug! Wieder lachte er laut. Der Wind trug die Geräusche fort.
Um Punkt 23.05h ging Klaus auf die Reise. Ruhig kletterte er über die Brüstung der Brücke und sprang direkt vor den vorbeirasenden Zug.
Er war sofort tot.

Der Zug war pünktlich.

(c) zAphod / h.l.v.s. in mcmxcvi

The memories of a man in his old age are the deeds of a man in his prime - pink floyd

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