Friesenherz

nils' Teil unserer populären FIREWALL!-Edition mit Kurzgeschichten. Sehr populär, also könnte es fast gut sein! =O) Überzeuge Dich einfach selbst!Gesamtauflage der Print-Ausgabe: etwa 100 Stück

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Friesenherz

Beitragvon admin » 02.12.2003, 00:37

Für Isabelle.

Paul war jetzt seit zwei Monaten bei der Wochenendbeilage der ‘Post' und er konnte nicht behaupten, daß ihm sein Job gefiel. Obwohl das ‘Journal', so heißt die Beilage der ‘Post', nicht so provinziell war, wie die Zeitung, für die er vorher gearbeitet hatte, schien sich doch nicht viel geändert zu haben. Noch immer wurde er zu Kaninchenzuchtausstellungen und Eröffnungen von Lebensmittel-geschäften geschickt. Das Schlimme war nur, daß seine Artikel darüber nicht einmal gedruckt wurden.
Mit der letzten Ausgabe des Journals bewaffnet stand Paul nun im Büro des Chefredakteurs Müller und versuchte krampfhaft sich nicht lächerlich vorzukommen, während er für seinen Artikel über eine Hundeausstellung eintrat, der nicht gedruckt wurde.
"Ich bin jetzt schon zwei Monate hier und alles was ich machen darf ist mich mit tollwütigen Zwergpinschern herumzuschlagen!" - Er stand auf und zeigte seinem Gegenüber sein Hinterteil. "Dreimal bin ich gebissen worden - immer in die selbe Stelle! Weiß der Teufel wie diese Miniaturvampire auf vier Pfoten da hochgekommen sind..."
"Paul, beruhigen sie sich doch!"
"Beruhigen? Ich soll mich beruhigen!? Dieser Artikel hat mich viel Schweiß und Blut gekostet. Mein Leben war in Gefahr, und der Artikel wurde schon wieder nicht gedruckt!" - Paul ließ sich wieder in den Sessel gegenüber des Chefredakteurs fallen und bereute es sofort. Die Wunden waren noch nicht ganz verheilt. Ein leises Stöhnen kam über seine Lippen. Müller konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
"Paul, es tut mir wirklich sehr leid, aber..."
"Was, aber? Was darf ich als nächstes machen? Mit Piranhas um die Wette schwimmen? Sagen sie es schon! Es eröffnet doch bestimmt in nächster Zeit irgendwo eine Zoohandlung, die sich auf solche Kreaturen spezialisiert hat! Ich bin begeistert! Endlich kommen meine wahren Talente zum Vorschein. Ich kann nämlich exzellent tauchen! Ich demonstriere es ihnen mal..." - Paul trabte auf das Aquarium seines Chefs zu, holte einmal tief Luft und steckte seinen Kopf hinein. Der Goldfisch erlitt beinahe einen Herzinfarkt.
"Nun nehmen sie sich doch zusammen, Paul! Alle haben mal klein angefangen, und das ist doch kein Grund..." Erst jetzt bemerkte der Chefredakteur, daß Paul immer noch tauchte.
Interessiert näherte er sich dem Aquarium und sah durch das Glas. Der Goldfisch war gerade dabei, die Türen und Fenster seines kleinen Unterwasserschlosses zu vernageln. Paul hielt durch. Seine Gesicht wurde langsam rot. Interessiert betrachtete der Chef seinen Untergebenen. So lange hatte es noch keiner durchgehalten. Vorsichtig klopfte er ans Glas: "Hallo, Paul, möchten sie bitte aus meinem Aquarium kommen? Mein Fisch bekommt Angst!"
Pauls Gesichtsfarbe näherte sich schon einem ungesunden blaurot, als er endlich den Kopf herauszog und nach Luft japsend zu Boden sank.
"Wissen sie, sie sind nicht der erste, der das machte" - er reichte ihm ein Handtuch - "aber sie haben recht. Sie sollten wirklich etwas Verantwortungs-volleres angehen."
Paul rieb sich gerade den Kopf trocken. Noch immer war er nicht wieder ganz bei Atem, als er antwortete: "Wirklich, Chef?"
Der Chef nahm wieder an seinem Schreibtisch platz und sah einige Unterlagen durch.
"Wirklich. Sie können sofort damit anfangen für unsere Reisekolumne einen Artikel zu schreiben."
Paul zog sich, noch immer wackelig, auf die Beine und schleppte sich zurück zu seinem Sessel. "Ist das wirklich war? Ich darf reisen? Auf Kosten der Zeitung? Das ist ja wunderbar!"
"Freuen sie sich nicht zu früh! Sie wissen, wir verlangen Insider-Informationen! Sie werden nicht als Tourist reisen, sondern sich als Einheimischer tarnen."
"Alles, was sie wollen, Chef! Wo soll es hingehen? Sri Lanka? Barbados? Auf die Antillen?"
"Nach Ostfriesland. In diesen Unterlagen sind alle Informationen, die sie brauchen. Morgen früh um neun geht ihr Zug. Ich wünsche ihnen viel Erfolg."

Bei Paul setzte es aus. Unfähig, weiter zu diskutieren verließ er das Büro und kam erst wieder richtig zu Bewußtsein, als er in seiner Wohnung die Haustür hinter sich geschlossen hatte.

Zu Hause begutachte er die Akte, die ihm der Chef mitgegeben hatte. Er hatte bisher nicht gewußt, wieviel Aufwand hinter so einem Reisebericht steckt: Man hatte ihm eine neue Identität verschafft und eine neue Vergangenheit dazu.
Paul war jetzt nicht mehr Paul, sondern Peter Petersen und statt einer Unterschrift befanden sich auf dem gefälschten Ausweis zwei Kreuze. Paul ahnte Schlimmes: Sollten die Witze über die Ostfriesen etwa gar keine Witze sein?
Er sollte sich als verlorener Sohn ausgeben, der während des Krieges von falsch informierten Russen entführt worden war, weil er "zuviel gewußt" haben soll. Das stellte sich natürlich als fataler Irrtum heraus. Man hatte ihn also 1945 aus der Gefangenschaft entlassen. Am 31. Februar wurde er in West-Berlin auf freien Fuß gesetzt und er hatte eine gewisse Zeit gebraucht, bis er sich bis nach Hause durchgefragt hatte...
Paul machte sich Gedanken. Er glaubte nicht, daß er mit der Geschichte durchkommen würde. 1945 war er schließlich noch gar nicht geboren und selbst seine Mutter war erst ein Jahr alt.
Am nächsten Tag nahm er den Zug in Richtung Emden und hoffte, daß seine Kontaktperson noch einige Vorschläge hätte, die ihm wirklich weiterhelfen könnten.


Um 35.55h fuhr der Zug im Bahnhof von Emden ein. Die merkwürdige Tageszeit resultierte, wie Paul später erfuhr, daher, daß der Bahnhofs-vorsteher noch nicht dazu gekommen war, das Kalenderblatt zu wenden.
Er wurde von einem jungen frettchengesichtigen Mann empfangen, der mit nervösen, unkoordinierten Bewegungen auf ihn zusteuerte, mit den Armen ruderte und immer wieder "Er ist zurück aus der Fremde!" rief. Paul versuchte einigermassen glücklich zu gucken, was ihm ausgezeichnet mißlang.
"Hinnack, bist du es wirklich", schauspielerte er lahm. Ihm grauste vor dem Teil, der jetzt geplant war.
"Mein verlorener Sohn", behauptete Hinnack, und bereitete durch zurückwerfen seiner Arme eine Umarmung des fast zwei Köpfe größeren Pauls vor.
Dieser biss die Zähne zusammen. "Vati", jubelte er, so gut das eben durch zusammengepreßte Zähne möglich war. Hinnack umarmte Pauls Bauch und dieser dessen Kopf.
Wenn die Ostfriesen nicht wirklich total bescheuert sind, dachte Paul, dann sind wir in spätestens zehn Minuten auf dem Weg in ein Sanatorium.
Hinnack ließ von ihm ab und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. "Laß dich mal ansehen, mein Junge! Groß bist du geworden! Und so viel älter!" - Paul wünschte, er würde zumindest die Lautstärke etwas drosseln.
"Lassen sie uns bitte von hier verschwinden", knurrte er leise.
Hinnack zuckte mit den Schultern. "Warum nicht. Du hast bestimmt seit der Gefangenschaft nichts mehr gegessen, was?"
Paul ging im Geiste noch einmal das Dossier durch, welches er über Hinnack erhalten hatte, um herauszufinden, ob dieser tatsächlich blöd war oder nur ein phantastischer Schauspieler. Er konnte sich nicht genau erinnern, hoffte aber stark, daß das Letztere zutraf.
Er wurde quer über den Bahnsteig gezerrt und in etwas hinein bugsiert, daß auf der Automobilausstellung sicher viel aufsehen erregt hätte. Natürlich ist die Ausstellung von 1953 gemeint und so kurz nach dem Krieg waren die Menschen nunmal noch leicht zu beindrucken.
Nachdem sie die Autotüren hinter sich geschlossen hatten, fing Hinnack ein hysterisches Kichern an. "Wir haben sie alle genarrt", prustete er.
Paul sah ihn an als ob er gerade behauptet hätte, daß die Regierung die Lage unter Kontrolle hätte. "Sag mal", versuchte er es ganz vorsichtig, "bist du sicher, daß auch nur eine Person auf diesen Schmarren hereingefallen ist? Du bist doch viel jünger als ich, wie könntest du da mein Vater sein?"
Hinnack wischte sich einige Tränen aus den Augenwinkeln und atmete tief durch. Als er Pauls Gesichtsausdruck sah, fing er wieder an zu lachen. Er ließ den Motor an und fuhr los. "Du mußt noch viel über uns Friesen lernen, Söhnchen", sagte er, "aber dazu später. Jetzt bring ich dich erstmal nach Hause."

Zwei Stunden fuhren sie jetzt schon über das platte Land. Die Umgebung änderte sich so gut wie gar nicht. Das einzige Indiz dafür, daß das Auto sich tatsächlich bewegte, war, daß sie ständig alten Männern begegneten, die alle miteinander verwandt zu sein schienen. Alle sahen sie, wenn schon nicht gleich, so doch zumindest sehr ähnlich aus.
"Beim Nächsten versuchst du es noch einmal. Und denk daran, was ich dir gesagt habe: Schwatz nicht so viel! Wir sind hier in Ostfriesland, nicht im Bundestag!"
Paul hatte es satt. Drei Stops hatten sie schon hinter sich, mit drei identisch aussehenden Bauern hatten sie sich, nach einem kurzen ‘Moin', angeschwiegen und wann immer Paul sich vorstellen wollte, bekam er von Hinnack einen Tritt gegen das Schienbein und wurde zurück ins Auto gedrängt. Sobald sie wieder fuhren, meckerte Hinnack los, daß er sich mit dieser Geschwätzigkeit nie als Einheimischer tarnen könnte und schmollte die nächsten fünf Minuten. Paul fühlte sich gegängelt wie bisher nur... naja, von seinem Vater.
Sie bogen von etwas, daß was man hierzulande wohl Straße nannte, auf eine Art Feldweg ein und holperten durchs Gelände. In einiger Entfernung sah Paul ein altes Bauernhaus stehen, dem sie sich langsam näherten. Die Dämmerung hatte schon eingesetzt, als sie endlich dort ankamen. "Vielleicht können wir es auf die Gehirnwäsche der Russen schieben", unterbrach Hinnack erstmals wieder die Stille seit dem letzten Stop. Er stellte den Motor ab, seufzte einmal kurz und wandte sich dann Paul zu: "Ich schätze, du hast Hunger, Sohn?" - Er versuchte sich wieder an einem Lächeln - "Laß uns reingehen. Ich hoffe Du magst Matjes?"
Ohne eine Antwort abzuwarten verließ er das Auto und stapfte durch den schlammigen Hof auf seine Wohnstatt zu. Paul merkte, nicht zum ersten mal, daß dieser Auftrag nicht einfach sein würde. Er haßte Matjes!

Nach dem Essen, welches Paul mehr oder weniger auf dem Teller hin und her geschoben hatte, bis Hinnack sich erbarmte und ihm eine Tiefkühlpizza zubereitete, saßen die beiden vor dem offenen Kamin in dem die Flammen ein Stück Torf umzüngelten und tranken einen Grog.
Beide schwiegen eine Zeitlang. Hinnack sprach als erster.
"Weißt du, Sohn, ich glaube, es wird nicht einfach." - Es folgte wieder ein nachdenkliches Schweigen, daß diesmal von Paul unterbrochen wurde.
"Weißt du, Hinnack, wenn du mich noch einmal ‘Sohn' nennst, wenn wir alleine sind, dann beiße ich dich."
Einige Augenblicke später nickte Hinnack mit dem Kopf. "Immer noch zuviele Worte für einen Sachverhalt, aber immerhin hältst du mittlerweile die Pausen beim Reden ein. Es gibt Hoffnung."
Paul wünschte, er hätte dieses Gefühl unterdrücken können, aber er fühlte Stolz in seiner Brust aufwallen. Er würde es doch schaffen: Ostfriesland - Ein Reisebericht. Und sein Name wird drunter stehen. Er wird es schaffen.

Am nächsten Morgen wachte er entspannter auf, als er es sich am Abend vorher hatte vorstellen können. Sein Bett war offensichtlich für Leute gestaltet worden, die eine Körpergröße deutlich unter 1.60m hatten. Hinnack hatte ihm versichert, daß es die King-Size-Ausführung der ostfriesischen Betten war und bevor er ihn mit einer Torffunzel auf seinem Zimmer alleine liess, nicht ohne ihm noch eine gute Nacht zu wünschen.
Paul hatte davon geträumt, den Pulitzerpreis zu gewinnen. Die schönen Erinnerungen glichen seine neuerworbenen orthopädischen Probleme mehr als aus.
Gutgelaunt stieg er die Treppe von seiner Kammer herunter und betrat summend die Küche. Hinnack stand am Herd. "Frühstück, Peter?" - Paul bemerkte freudig, daß er immerhin nicht mehr ‘Sohn' genannt wurde. "Gerne", antwortete er, "was gibt es denn gutes?" - Hinnack stellte ihm einen Teller und einen Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit hin. Auf dem Teller lagen drei Matjes. Pauls gute Laune ließ etwas nach. Er beschloß, daß er sich heute Morgen nur flüssig ernähren würde. Er nahm einen großen Schluck von dem, was er für Kaffee hielt und verfluchte im nächsten Augenblick seine allmorgendlich verstopften Nebenhöhlen die eine Geruchsidentifizierung unmöglich gemacht hatten. Heißer Grog hatte sie soeben brutal wieder freigepustet.
"Ernährt ihr Euch hier von nichts anderem", prustete er. Er war sich ziemlich sicher, daß er den Matjes jetzt auch noch herunterwürgen konnte. Seine Zunge war schließlich gerade vollständig verätzt worden.
"Langsam findest du einige wichtige Sachen über uns raus, Peter. Man merkt gleich, daß du Reporter bist." -Hinnack beugte sich verschwörerisch zu ihm herüber und flüsterte leise: "Ich verrate dir was, Peter: Alle zwei Wochen lutschen wir auch noch eine Kartoffel - damit wir keinen Skorbut bekommen!" - Paul starrte ihn entgeistert an, umso mehr, als er keinen Funken Ironie in Hinnacks Augen sah. Er schluckte. "Ich werde es notieren. Danke, Hinnack."
Dieser hatte sich schon wieder dem Herd zugewandt und tat beschäftigt. Paul hatte keine Ahnung, was er immer am Herd tat, wo es doch sowieso immer kalten Matjes gab.

"Wir werden uns jetzt in den Dorfkrug begeben. Dort mußt du dich das erste mal richtig bewähren. Wir Einheimischen gehen jeden Tag in den Dorfkrug. Besonders sonntags. Sieh zu, daß du dich nicht wieder verplapperst, Peter! Eine Frequenz von fünf Silben pro Minute sollte nicht unbedingt überschritten werden, wenn du redest. Das ist zwar schon ziemlich viel, aber wir können es auf die russische Gehirnwäsche schieben." Sie rumpelten den Feldweg zurück in Richtung Straße. Paul hatte einige Hoffnungen, was den Dorfkrug anging. Vielleicht würde er dort etwas anderes zu essen bekommen können als Matjes.
"Wie kommt es eigentlich, daß du so viel mehr redest, als ich reden darf", quengelte er.
Hinnacks Stimme wurde leiser: "Ein Unfall in meiner Kindheit. Bin vom Deich gefallen, direkt auf meinen Kopf... - Drei mal. Ein Wunder, daß ich noch lebe..."
"Oh", stammelte Paul, "entschuldige, daß wußte ich nicht! Tut mir leid, daß ich gefragt habe..."
"Das konntest du ja nicht wissen" - Hinnack schüttelte die lästigen Erinnerungen mit einem schnellen Kopfschütteln ab und wies Paul dann, mit gefaßterer Stimme, noch einmal zurecht: "Vergiß nicht, ‘Vater' zu mir zu sagen! Wir wollen doch einen guten Eindruck machen, nicht wahr, Sohn!?"
"Ja, Papa." - Sie fuhren einen Moment schweigend weiter. "Meinst du wirklich, daß man uns abnimmt, daß du mein Vater bist, obwohl du viel jünger aussiehst, als ich?"
Hinnack musterte ihn. "Sei mir nicht böse, Sohn, aber du siehst auch nicht gerade wie ein über fünfzig Jahre alter Mann aus."
Pauls Frage war dadurch zwar keinesfalls beantwortet, aber er dachte sich, daß er so immerhin vielleicht noch einen Preis für Humor bekommen wird. Er fragte sich, wer sich diese blöde Geschichte überhaupt hatte einfallen lassen.
"Mach dir keine Sorgen, Sohn, es wird schon schiefgehen. Deine Alibi-Geschichte habe ich mir selbst ausgedacht! - Es wird schon klappen!"
Paul machte sich trotzdem immer noch Sorgen, als das flache Land vor ihnen auf einmal aufbrach und ein paar Häuser ausspuckte. ‘Abrich', sagte das Ortsschild.
"Jetzt wird Tango getanzt", murmelte er lässig in seinen Dreitagesbart und atmete noch einmal tief durch.

Der Dorfkrug war eine dunkle Kaschemme, voll verkleidet mit altem Holz, das über die Jahre durch den Ruß des Kaminfeuers fast vollständig geschwärzt war. Auch jetzt loderte ein Feuer im Kamin und ein Mann war gerade dabei, einige Torfklumpen nachzuwerfen. An den fünf schweren, groben Tischen saßen einige Leute, die allesamt so aussahen, als wären sie direkt aus einem Hans-Albers-Film entlaufen. Pauls Augen gewöhnten sich nur langsam an die schummrige Beleuchtung im Lokal. Die Decke war sehr niedrig und als Hinnack ihm Zeichen gab, daß er ihm folgen solle, stieß er sich bei den ersten paar Schritten noch ständig an Balken, die hier und da ständig wieder aus der Decke ragten. Offensichtlich war das Haus sehr alt und der letzte Handwerker, der sich mal um den Zustand des Gemäuers gekümmert hat, dürfte auch schon einige hundert Jahre tot sein.
Sie setzten sich zu einigen, mit verschränkten Armen und fast bis über die Augen gezogenen Schiffermützen dasitzenden, alten Männern.
Wenn es so etwas, wie ‘echte rustikale Ostfriesland-Atmosphäre' in Eimern gäbe, dann wurden hier einige hundert davon ausgeleert. "Moin", sagte Hinnack und setzte sich. Er verschränkte die Arme vor der Brust und begann damit ein Loch in die Tischplatte zu starren. Paul machte es ihm nach. Schnell stellte er fest, daß er es im Gegensatz zu den anderen am Tisch, nie wirklich schaffen würde, ein Loch in den Tisch zu starren. Das mußte ein Naturtalent der Eingeborenen sein. Er nahm sich vor, eine Notiz darüber für seinen Artikel zu machen: ‘Ostfriesen können Löcher in Tischplatten starren, die aus fünf Zentimeter dickem, massiven Eichenholz bestehen'
Nach einiger Zeit kam der Wirt vorbei und starrte finster in die Runde: "Was wollt ihr?"
Paul war froh, daß jemand mit ihm sprach. "Grog", sagte er. Er war stolz auf sich. Er hatte für seine Bestellung nur eine Silbe gebraucht und war fest davon überzeugt, das richtige bestellt zu haben. Er hatte gelernt. Ein Blick in die Runde belehrte ihn eines Besseren. Alle starrten ihn finster an. Paul begann, sich etwas unwohl zu fühlen. Ein Seitenblick verriet ihm, daß auch Hinnack ihn wütend anstarrte.
"Ich hätte gerne eine bekömmliche Tasse Ostfriesentee mit ein wenig Zitrone, bitte, lieber Herr Wirt", brummte nun der erste der Alten an seinem Tisch. Der nächste erhob seine Stimme: "Ach, und wo sie gerade dabei sind, ich hätte gerne dasselbe wie mein lieber Freund hier." - So ging es weiter. Nach und nach bestellten alle auf eine penetrant redselige Art ihren Tee, selbst Hinnack stimmte mit ein. Nachdem jeder bestellt hatte, spürte Paul wieder alle Blicke auf sich ruhen. Der Wirt stand immer noch am Tisch. "Ich glaube, dann nehme ich auch lieber eine Tasse Tee, für mich aber bitte keine Zitrone, nur etwas Zucker, wenn es recht ist", würgte Paul heraus. Er war kurz davor, heulend auf Klo zu rennen. Sie wußten alles! Er war entdeckt! Panikartige Gedanken schossen durch seinen Kopf. Er beobachtete die Anderen. Noch immer sahen diese ihn an. Plötzlich bleckte der erste von ihnen seine Zähne und ließ ein beängstigendes Knurren hören, was bald mehr einem Bellen gleichkam. Nach und nach stimmten alle mit ein. Paul brauchte einen Moment um zu begreifen, daß alle Tränen lachten. Vorsichtig stimmte er mit ein. Nach fünf Minuten lachten sie immer noch. Paul fühlte sich wesentlich besser, obwohl er nicht wußte, warum gelacht wurde.
Erst als der Wirt Grog für alle brachte, setzte sich seine Laune wieder etwas, erreichte aber bald darauf ein neues hoch, als er an dem Grog, den er zuerst für Tee gehalten hatte, daß erste mal nippte und empört ausrief, daß der Tee schlechtgeworden sei.
Als sie das Lokal nach vielen Stunden wieder verliessen war er ziemlich betrunken, hatte aber immer noch nicht viele Worte mit den Eingeborenen gewechselt. Trotzdem ließ er sich guter Dinge auf den Beifahrersitz von Hinnacks altem Wagen fallen. Nachdem sie einige Zeit gefahren waren, sagte Hinnack bewundernd: "Mann, Junge, bist Du ein Komiker! Hätte ich gewußt, daß du so ausgezeichnet Touristen imitieren kannst..."
Paul verschluckte sich fast an seinem Grog, den er sich für den Weg mitgenommen hatte. Langsam dämmerte es ihm, warum er so beliebt war. Scheinbar hatte er eine Unterhaltung über die Menschen außerhalb Ostfrieslands geführt ohne es überhaupt zu wissen. Je mehr er darüber nachdachte, desto eher war er bereit zuzugeben, daß eigentlich mit den wenigen Worten die gewechselt worden waren schon alles gesagt war: Die spinnen, die Nicht-Ostfriesen!
"Auf jeden Fall hast Du das Eis gebrochen, Junge. Ich denke, du wirst in den nächsten Tagen einige deiner neuen Freunde persönlich aufsuchen können..."
"Oh, fein, Papa."

Am nächsten Tag erwachte er mit etwas, daß unmöglich sein Kopf sein konnte. Dafür war es eindeutig zu groß. Hinnack versorgte ihn zum Frühstück mit Matjes und Grog und danach ging es ihm gleich viel besser. Wenn ihm jemand vor einigen Tage gesagt hätte, daß Matjes und Grog sein Wohlbefinden verbessern würden, hätte er ihn höchstwahrscheinlich für übergeschnappt erklärt, aber jetzt war alles anders. Seit gestern war er ein heimgekehrter Ostfriese. Er beschloß, nach dem Frühstück einige Leute zu besuchen.
"Leihst du mir deinen Wagen, Hinnack? Ich wollte heute mal beim ollen Nissen vorbeisehen. Wir haben damals zusammen im Sandkasten gesessen!"
Hinnack sah ihn angenehm überrascht an. "Es scheint doch noch was aus dir zu werden, Junge. Das läuft ja besser, als ich gedacht habe." - Halb spitzbübisch, halb anerkennend blinzelte er ihm zu - "Natürlich kannst du den Wagen haben. Ich werde dir den Weg erklären. Du könntest etwas Milch von Nissen mitbringen! Er hat immer noch einige Kühe und ist froh, guten Freunden auszuhelfen."
Paul war immer noch so enthusiastisch, daß er vergaß zu fragen, wofür man zur Zubereitung von Matjes und Grog Milch brauchte. Er schlang sein Frühstück runter und machte sich auf zum Auto.
"Tschüs, Papa!"
"So warte doch, Junge!" - So plötzlich gebremst in seinem Tatendrang merkte Paul das erste mal, daß er langsam in seiner Rolle aufzugehen begann.
"Ja, Hinnack?"
"Benehme dich anständig und denke daran, was ich dir gesagt habe: Rede nicht soviel!"
"Ja, Papa", rief er fröhlich und machte sich auf den Weg.

Er fuhr mit dem Auto in Richtung Norden. Norden lag eigentlich mehr in Richtung Westen, von Hinnacks Behausung aus gesehen, von Abrich direkt war es aber immerhin schon wieder fast Nordwestlich. Himmelsrichtungen sind in Ostfriesland nicht so wichtig wie anderswo. Immerhin liegt Ostfriesland südlich von Nordfriesland, aber doch östlich von Westfriesland. Südfriesland gibt es nicht mehr. Paul vermutete dessen Lage etwas nordwestlich von Westfriesland. Es ist damals wahrscheinlich mit Atlantis untergegangen, wurde in der Mythologie aber etwas unter den Tisch gekehrt, weil die südfriesische Kultur dieser Zeit nicht sehr viel hergab. Paul nahm sich vor, in einigen Jahren einmal einen Roman über Südfriesland zu schreiben.
Herr Nissen war Leuchtturmwärter. Ein Job, der keine besonders großen Aufstiegschancen hat, zumindest dann nicht, wenn der Leuchtturm mitten im Inland steht. Die Landgewinnung ist der natürliche Feind aller Leuchtturm-wärter. Die Familie vom ollen Nissen kämpft schon seit Generationen dagegen an, mit stetig abnehmendem Erfolg. Trotzdem haben die Nissens ihren Job schon seit 23 Generationen inne und werden ihn auch weiter behalten weil die Touristen sehr begeistert von Leuchttürmen sind. Ihnen ist es vollkommen egal, ob er am Meer steht oder in den Alpen, sie finden Leuchttürme einfach malerisch.
Vor dem Turm saß der olle Nissen auf einer Bank und rauchte seine Pfeiffe. Einige Kühe grasten um ihn herum. Paul parkte den Wagen und schlenderte zu ihm rüber. Er versuchte das leichte Nieselwetter möglichst zu ignorieren und setzte sich zum Nissen auf die feuchte Bank, nachdem er ihn mit einem knappen "Moin" begrüßt hatte. Der Nissen sah ihn, natürlich nicht ohne eine gebührende Zeit verstreichen zu lassen, an und fragte mitfühlend: "Na? - Kopf?"
Paul erinnerte sich an das, was Hinnack ihm beigebracht hatte und wartete eine Zeitlang bevor er antwortete. "Nee, danke. Hab schon einen..."
Nissen schmunzelte und reichte ihm eine Stange Kautabak. Paul bemerkte erstaunt, daß man mit Unterhaltungen über Kopfschmerzen nach zuviel Grog am Vortag tatsächlich einen halben Tag füllen kann, ohne wirklich viele Worte darüber zu verlieren. Er gab sich sehr viel Mühe, die Sprachetikette einzuhalten und biss erstmal widerwillig von dem ihm gereichten Kautabak ab, bevor er den ollen Nissen nach etwas Milch für Hinnack fragte. "Klar", antwortete der, und bellte dann laut: "Frau!"
Etwas, daß Paul vorher bei dem diesigen Wetter für eine Kuh gehalten hatte, richtete sich auf einmal auf der Weide auf. Offenbar war Frau Nissen gerade beim Melken gewesen. Nissen machte einige knappe, aber komplexe Handbewegungen, die seiner Frau, ohne Worte zu verwenden, mitteilten, daß sie für Hinnack etwas Milch bereitstellen sollte.
Auch bei näherem Hinsehen hob sich Frau Nissen nicht sonderlich von ihren Kühen ab, fand Paul.
Herr Nissen zuckte einmal mit dem Kopf und schien damit seine Zunge aus der Verankerung gelöst zu haben: "Laß´ rein, Peter. Schietwetter."
Gemeinsam erhoben sie sich und betraten den Leuchtturm. Sie stiegen einige Treppen hoch und erreichten einen kleinen, aber hübschen Wohnraum. Ein Torfstück brannte im Kamin und auf dem Herd stand ein Topf, in dem etwas dampfte und gluckernde und saugende Geräusche von sich gab.
Der olle Nissen bot ihm mit einer Handbewegung einen Sitzplatz am Esstisch an und ging zum Herd rüber um beiden einen - Paul hatte es schon geahnt - Grog einzuschenken.
Würdevoll prosteten sie sich zu und tranken schweigend.

Der Inhalt des, wahrhaftig nicht kleinen, Grogtopfes auf dem Herd hatte sich schon stark gelehrt, als Frau Nissen den Raum betrat. Beide waren gerade in ein Gespräch über die Taten ihrer Kindheit vertieft und kicherten und tratschten wie alte Waschweiber (Waschweiber aus gesprächigeren Landesteilen). Missmutig stellte sie eine Milchkanne neben Paul ab und machte sich daran, neuen Grog aufzusetzen.
Auf Paul wirkte sie ernüchternd. Er dachte wieder an seinen Auftrag und begann ein paar konkretere Fragen über das Leben des ollen Nissens zu stellen.
"Wie ist es dir denn überhaupt ergangen nach den Wirren des Kriegs?"
"Och, es war hart. Stell Dir vor, eines Tages erzählt mir jemand, daß du deswegen so lange nicht bei mir zu Besuch gewesen bist, weil die Russen dich mitgenommen haben. Warum machen die Russen das, habe ich gefragt. Es war so ein Großstädter, mit dem ich sprach, und der erzählte mir dann erstmal etwas über den Krieg. Mir viel ein, daß ich schon mal etwas vom Krieg gehört hatte. Ich dachte sofort daran, dich zu befreien und habe mich in der Stadt in einer Kaserne gemeldet. Ich will in den Krieg, habe ich gesagt, ich will Peter Petersen retten. Der junge Schnösel hinter dem Schreibtisch, weißt du, was der mir dann erzählt? Der sagte mir, der Krieg sei schon lange vorbei, und wir hätten schon 1970. Was, habe ich gesagt, der Krieg ist vorbei, aber warum habe ich dann so lange nichts mehr vom Kaiser gehört? Und dann haben sie mich rausgeworfen."
Paul hatte echte Schwierigkeiten, seinen Worten zu Folgen, bis ihm auffiel, daß er mit dem Unverständnis schon ganz richtig lag. Der Kaiser... - Paul schüttelte mit dem Kopf.
"Meinetwegen bist du in die große Stadt gefahren, Nissen? Ich danke dir, alter Freund..." - Beide schluchzten ein wenig, ergriffen von ihrer Männerfreundschaft.
"Das war nicht einfach da, das sag ich dir! Ich komme aus der Kaserne raus, da sehe ich ein paar junge, langhaarige Frauen mit Protestschildern auf denen stand" - Er hielt einen Moment inne und bewegte die Lippen ohne zu sprechen und sah dabei sehr konzentriert aus - "darauf stand: Stoppt den Krieg! Ich bin dann zu ihnen rüber und habe gesagt: Mädels, der Krieg ist schon lange aus, der Kaiser ist nicht mehr! Laßt uns einen trinken gehen, ihr Hübschen! - Sie murmelten etwas von Vietnam und kamen dann aber doch noch mit. Ich habe von Vietnam in einer der alten Zeitungen von Oma Nissen gelesen: Da wollten einige Indochinesen ihre Unabhängigkeit von den Kolonial-herren, stell dir das mal vor... "
"Unglaublich", behauptete Paul, und meinte damit die Rückständigkeit von Nissens politischer Bildung.
"Das dicke Ende kommt erst noch: Die Mädels, mit denen ich dann noch einen Grog trinken gegangen bin..." - Er schwieg verlegen. Paul konnte sich das dicke Ende schon denken. "Was war mit denen, Nissen?"
"Du wirst es nicht glauben: Das waren alles Kerle! - Mit langen Haaren!!" Nissen stand auf um Grog nachzuholen.

Nach dem Abendessen (es gab diesmal Grog und Matjes) mußte Nissen arbeiten, Paul leistete ihm dabei Gesellschaft. Die redselige Phase, die wie Paul mittlerweile herausgefunden hatte, zu den Nebenwirkungen von Grog gehörte, war wieder verpufft und die Atmosphäre war wieder etwas gesetzter, friesischer geworden. Sie saßen oben im Leuchtturm und beobachteten, wie der riesengroße Scheinwerfer bedächtig in seinem Gehäuse rotierte und allen Schiffen, die sich zufällig ins Binnenland verirrt hatten, sicher den Weg wies.
"Eine sehr schöne Arbeit, Nissen"
"Ja, es entspannt."
Es war faszinierend, zu beobachten, wie der Lichtkegel des Leuchtturms ohne auf ein Hindernis zu stoßen scheinbar endlos ins Weite strahlte. Ostfriesland war wirklich flach. Ein beliebter ostfriesischer Witz lautet wie folgt: "Ich wäre gerne pünktlich gekommen, Liebling, aber ich bin auf dem Weg zu dir über einen Hügel gestolpert."
Er ist nicht sehr witzig, aber das muß er auch nicht sein. Er wird hauptsächlich Touristen erzählt und über deren dumme Gesichter wird dann gelacht. Nur den Touristen ist es zu verdanken, daß sich dieser Witz schon seit drei Generationen halten konnte.
"Manchmal lese ich auch", behauptete Nissen verschämt. Er kramte eine alte, zerfledderte Ausgabe des Blinkers hervor.
"Eine Angelzeitschrift?"
"Ja, ich habe sie vor einigen Jahren gekauft. Wenn ich sie durch habe, kann ich sie dir leihen", bot er verlegen an. Offensichtlich wurde er von den Anderen damit aufgezogen, daß er las. Man nannte ihn wahrscheinlich den Dorf-Intellektuellen.
"Gerne, Nissen", sagte Paul. Nissen atmete tief durch und schien erleichtert, daß er von Paul nicht aufgezogen wurde.
"Es ist nicht einfach, bei der Arbeit zu lesen", murmelte er. "Das blöde Licht rotiert ja ständig. Einmal, als ich genug davon hatte, nur alle 20 Sekunden mal einige Buchstaben zu lesen, bin ich dem Lichtkegel hinterhergerannt. Das ging dann besser, aber viel mehr lesen konnte ich bei der Rennerei trotzdem nicht."
"Wow, hast du es lange durchgehalten?"
"Naja, ich lese ja nicht die ganze Zeit." - Er deutete in eine Ecke in der ein merkwürdig aussehender Fernseher stand. Paul sah ihn sich genauer an. Er schien von Solarzellen betrieben zu werden, jedenfalls fand Paul keinen Netzanschluß für das Gerät.
"Und der funktioniert?"
"Aber natürlich!" - Nissen schob Paul beiseite und machte sich an dem Gerät zu schaffen.
"Erstaunlich", mußte Paul zugeben, "man versteht tatsächlich jedes zweite Wort von Derrick!"
Das Bild flackerte, je nach Bestrahlung durch das rotierende Licht des Leuchtturms.
"Harry spricht schneller als Derrick. Da versteht man mehr", erklärte Nissen stolz.

Die nächsten Tage lebte Paul sich immer besser ein. Er lernte viele Leute aus ‘seiner Vergangenheit' kennen und war sehr überrascht, daß alle fest davon ausgingen, daß sie tatsächlich eine gemeinsame Vergangenheit gehabt hatten. Anfangs fragte er sich noch, was aus dem wirklichen Peter Petersen geworden sein mag, mittlerweile konnte er sich nur nicht mehr erklären, warum er für den Weg von Berlin zurück nach Ostfriesland so lange gebraucht hatte. Eine Veränderung ging in ihm vor, die Paul selbst kaum auffiel, bis er eines Abends seinen Redakteur in Hamburg anrief.
"Paul, wie geht es dir? Wir dachten hier schon, daß die Friesen dich gefressen hätten", witzelte der Chef.
"Och, nö..." - Er stand im Flur von Hinnacks Haus und fragte sich ehrlich, warum sein Gesprächspartner eigentlich soviel redete.
"Brauchen sie noch lange da unten?"
"Och, nö..."
"Paul? - Sind sie o.k.?"
"Jau."
"Nun, mir scheint, daß sie sich gut eingelebt haben", bemerkte der Chefredakteur etwas pikiert, "aber gut. Hören sie: Sie haben noch eine Woche, dann ist ihr Arsch wieder in der Redaktion und ich sehe sie über dem Artikel schwitzen."
Paul wurde durch die harten Worte plötzlich wieder an seine Reporter-Vergangenheit erinnert.
"Ja", antwortete er zögernd.
"Ja. Und legen sie diese Parodie eines maulfaulen Ostfriesen ab, wenn sie sich mit mir unterhalten", brüllte Müller jetzt ins Telefon.
"Äh, ja, natürlich, Herr Müller, kein Problem. In einer Woche also..."
"Ja", knurrte dieser und knallte den Hörer auf.

Paul legte den Hörer auf. Er war etwas durcheinander. Die Persönlichkeiten von Peter und Paul jagten sich in seinem Kopf und es war unklar, wer das Rennen gewinnen würde. In diesem Moment öffnete Hinnack die Tür zur Küche und sah heraus.
"Alles klar bei Dir, Sohn?"
"Jo..." - Pauls Kopf brummte noch immer.
"Dann komm in die Küche. Es gibt Abendbrot - Ich habe dein Lieblingsessen gekocht!"

Selbst Matjes und Grog wollten ihm nicht so recht schmecken. Der Ausbruch seines Chefs am Telefon hatte ihm zu denken gegeben. Wer war er wirklich? Bis zu dem Telefonat war er Peter Petersen. Das wußte er, das wußte Hinnack, das wußten alle in der Gegend. Es ist wirklich schwierig genug, herauszufinden, wer man ist, ohne das Andere noch dazwischenbrüllenund einen aus dem Konzept bringen. Hatte er sich nur zu sehr in seinen Auftrag hineingesteigert, oder war er aus einem langen Traum erwacht um endlich seine wahre Identität zu erkennen.
"Iß jetzt, Junge!"
"Ja, Papi", sagte Paul gedanken-verloren und kaute lustlos auf seinem Matjes herum.
"Weißt du, Sohn, es gibt da noch etwas für dich zu tun."
Paul sah auf. Das hörte sich ganz nach einem Vater-Sohn-Gespräch an.
"Du solltest endlich Gisela aufsuchen. Ich weiß, es stand nicht gut um eure Beziehung, bevor du uns so plötzlich verlassen mußtest damals, aber glaube mir: sie hat dich bestimmt nicht vergessen."
Hatte Paul eben noch das Gefühl gehabt, daß wilde Gedankenstürme durch seinen Kopf rasten, so lernte er jetzt, was ein Gedankenorkan war.
Hinnack warf ihm die Autoschlüssel rüber. "Jetzt", befahl er. "Sie ist im Theater bei der Kurverwaltung. Sie übt da ein neues Stück für die Touristen ein."

Der Erbauer des Theaters hatte offensichtlich zu viele Sandalenfilme gesehen. Das Theater machte den Eindruck, als ob jeden Moment einige Leute in Bettlaken und Sandalen hineinlaufen und "Laßt die Löwen los!" rufen würden. Die perfekte Durch-führung schien aber am Budget gescheitert zu sein, weswegen das Colosseum, wie es tatsächlich hieß, nicht ganz maßstabsgetreu gelungen war. Die Türen waren sehr niedrig. Paul betrat das Theater. Der Innenarchitekt schien die Vorstellungen seines Kollegen nicht ganz zu teilen. Der Innenraum sah sehr nach einem klassischen, pompösen Theater aus. Paul schlenderte durch die Sitzreihen auf die Bühne zu, um besser erkennen zu können, was da vonstatten ging. Er nahm in der zweiten Reihe hinter dem Regisseur und einigen anderen Leuten, scheinbar seinen Assistenten, platz.
"Es kann doch nicht so schwer sein, ein Dutzend Streitwagen auf die Bühne zu schaffen", brüllte der Regisseur. Bestimmte Berufe verlangen einfach, daß gebrüllt wird. Dazu gehören die des Regisseurs, des Chefredakteurs und der des Fischhändlers.
"Die Streitwagen machen wenig Probleme, anstrengend ist es nur, die ganzen Pferde noch mit unter-zubringen", rief einer von der Bühne zurück, der gerade dabei war, ein an einem Kran hängendes Pferd vorsichtig abzulassen.
Paul beugte sich leicht vor und klopfte dem Regisseur vorsichtig auf die Schulter. Dieser schnellte blitzartig herum und starrte ihn aus schwarzgeränderten Augen an.
"Was ist, was willst du? - Ah, der Peter Petersen! Ich habe schon von dir gehört"
"Hallo", sagte Paul freundlich, "sagen sie: was für ein Stück proben sie?"
"Oh, wir proben die Bühnenversion von Ben Hur!" - Er wühlte plötzlich in seinen Unterlagen und zerrte ein mehrere Zentimeter dickes Skript hervor: "Hier! Das Originalskript des Hollywoodfilmes! Wir übernehmen alle Details, selbst die Digitaluhren!" - Er war offensichtlich sehr von seiner Idee eingenommen.
"Ich wünsche viel Glück! Wann ist denn die Premiere?"
"Oh, ähm..." - Der Regisseur wand sich etwas - "Nun: Übermorgen."
Auf der Bühne hatte das Pferd mit den Beinen gerade den Boden erreicht und machte prompt einen Fluchtversuch durch die Bühnendekoration hindurch. Leinwand riß, Holz splitterte und der Optimismus des Regisseurs bekam einige Kratzer.
"Könnten sie mir vielleicht noch sagen, wo ich Gisela finden kann", fragte Paul die sterblichen Überreste des Meisters.
"Hinter der Bühne. Sie ist für das Licht verantwortlich."
Paul dankte ihm und erhob sich.
"Geht es ihnen gut, Herr Felini", wollte einer seiner Assistenten wissen.
"Wieso sollte es mir nicht gut gehen? Nur weil ich auf dem Boden liege, röchle, blau anlaufe und mir ans Herz fasse? Nenn mich nicht immer Felini!"
"OK", sagte der Assistent und ließ ihn seinen Herzanfall alleine ausbaden.
Paul hatte sich schon in Richtung Bühnenseiteneingang entfernt.

Als er sie endlich fand, eingekesselt zwischen Streitwagen, Pferden und einer vorsinnflutlichen Lichtanlage, blieb sein Herz einen Moment stehen.
Nicht nur, daß sie geradezu atemberaubend schön war, nicht nur, daß sie in seinem und nicht in Peter Petersens eigentlichem Alter war, er hatte dazu auch noch den Eindruck sie zu kennen! Er bekam Kopfschmerzen.
"Gisela?" - Seine Stimme war kaum zu hören. Er räusperte sich und versuchte es noch einmal: "Gisela, bist du es?"
Sie sah auf und die Welt stand still. Der Lärm der Kräne, daß Geschrei des Regisseurs, der sich offensichtlich wieder erholt hatte, das Wiehern der Pferde - Alles trat in den Hintergrund. Es gab nur noch sie und ihn.
"Peter", flüsterte sie, "nach all den Jahren..." - Tränen stiegen ihr in die Augen und Paul verlor in diesem Moment die letzten konkreten Bezugspunkte zu seinem alten Leben.

Peter wußte nicht, wie lange sie da gesessen und geredet hatten. Ihre Hände hatten sich irgendwo zwischen 1940 und 1980 getroffen und weigerten sich nun, wieder voneinander zu lassen. Sie waren füreinander bestimmt gewesen und der Teufel weiß, was sie solange voneinander getrennt hatte. Sie holten eine Vergangenheit auf, die sie ihrem Alter nach gar nicht hätten haben können, und verloren sich dabei immer mehr.
Nur noch dunkel konnte Peter sich an Paul erinnern, dafür wußte er auf einmal wieder alles über seine Jugend in Ostfriesland. Die Stürme in Peters Kopf hatten sich gelegt und einer wunderbaren, fast ‘nordischen' Klarheit platzgemacht.
Er wußte nicht, wie lange sie geredet hatten, es mußte aber eine lange Zeit gewesen sein: Als Peter das erste Mal wieder aufhorchte und seine Umwelt wahrnahm war aller Lärm im Theater verschwunden und das Theater lag fast im Dunklen.
"Es ist Zeit, zum Treffen zu gehen", sagte Gisela und räumte ihre Sachen zusammen.
Peter wollte nicht gehen - Niemals wieder!
"Gehen? Wohin? Was für ein Treffen?"
Sie sah ihn etwas amüsiert an.
"Du weißt schon: Das geheime Kommittee gegen Landgewinnung!?"
Er wußte nicht. "Ach, dahin", log er. "OK."

Sie verliessen das Theater durch einen Hinterausgang.
"Laß mich doch bitte einen Moment los, Peter, ich muß die Tür eben abschließen", lachte Gisela.
Nur sehr widerwillig kam er der Aufforderung nach.
Die Sicherheitstechnik schien, ebenso wie die Architektur, dem alten Rom entsprungen zu sein. Das ‘Abschließen' bestand darin, einige grobe Holzkeile zwischen Tür und Rahmen zu hämmern. Es garantierte immerhin, daß niemand mehr aus dem Theater rauskam. Eine Seebrise wehte um die Ecken des Theaters und strich Gisela durchs Haar. Peter wurde bald wahnsinnig vor Glück als das beobachtete. Er fragte sich, was ihn nur solange davon hatte abhalten können, diese wunderbare Frau wiederzusehen.
"Fertig", sagte Gisela. Sie verstaute den Hammer wieder in ihrem Rucksack, nahm Peter bei der Hand und zog ihn mit sich in Richtung des Auricher Dorfgasthofs.
Peter wäre mit ihr überall hin, zur Not auch durch die Hölle gegangen.

Im Dorfgasthof waren fast alle Leute aus der Umgebung versammelt und es ging für ostfriesische Verhältnisse direkt geschwätzig zu. Peter nickte dem ollen Nissen und einigen Anderen kurz zu. Auch Hinnack war da. Kurze Zeit, nachdem sie platz genommen und einen Grog bestellt hatten erhob sich der olle Nissen und räusperte sich.
"Liebe Mitfriesen. Heute ist endlich der Tag gekommen, an dem wir uns gegen die gemeinen sogenannten Landrück-gewinnungsaktionen der Landes-regierung zur Wehr setzen werden!" - Zustimmendes Gemurmel erhob sich überall.
"Über mehrere Generationen hinweg waren meine Vorfahren Leucht-turmwärter. Wir machten unsere Aufgabe ausgezeichnet" - er stockte kurz - "und haben höchstens dreimal pro Jahr ein Schiff zum Plündern auf eine falsche Fährte gelockt. Jetzt steht mein Leuchtturm mitten im Land und ist nicht nur einfach eingedeicht, sondern geradezu von Festland umzingelt!" - Er sah in die Runde, in der alle Leute zustimmend nickten, oder ihrem Nachbarn berichteten, wie hart sie die Landgewinnung getroffen hatte. Sogar ein alter Deichgraf war dabei, der erzählte, daß er es widerlich findet, daß sein Deich jetzt schon seit mehreren hundert Jahren nicht mal mehr bei Sturmflut in Küstennähe ist.
Nissen erhob wieder seine Stimme: "Ich sage, wir diskutieren schon zu lange! Heute Nacht sollen endlich mal Taten folgen!" - Sein Publikum jubelte. Peter riskierte einen Seitenblick auf Gisela. Auch sie schien begeistert, also beschloß Peter den Vorschlag ebenfalls zu unterstützen. "Mein Plan lautet wie folgt: Wir gehen alle nach Hause und holen so viele Eimer wie wir nur finden können. Wir treffen uns dann um Punkt Mitternacht an der Kurverwaltung in Norden wieder. Dort habe ich einen unbeobachteten Wasserhahn ausfindig gemacht. Wir machen dann eine Menschenkette zum Meer und geben ihm zurück, was ihm genommen wurde!"
Die Dorfkneipe kochte derart über vor Emotionen, wie sie Peter bei den Friesen noch nie erlebt hatte. Auch er war in den Jubel mit eingestimmt und hielt die Idee die meiste Zeit über sogar für großartig.
Der Nissen bat noch einmal um Ruhe: "Behaltet einen kühlen Kopf, Leute, uns dürfen keine Fehler unterlaufen. Es wird Zeit, daß wir Ostfriesland retten, indem wir es wieder dem Meer übergeben!

Schweren Herzens ließ Peter Giselas Hand los, als die Versammlung aufgelöst wurde.
"Wir sehen uns nachher, ja? Ich möchte nur Dir meinen Eimer weiterreichen!"
"Sohn, hör auf zu schleimen, ja? Komm jetzt!" - Hinnack war von hinten an ihn herangetreten und zog ihn jetzt von Gisela weg in Richtung seines Autos.
Nachdem sie eingestiegen und eine zeitlang gefahren waren und Hinnack immer wieder zu Peter rüber gesehen hatte, der nur verklärt durchs Fenster sah, sprach er ihn an: "Du bist also wieder ein volles Mitglied unserer Gesellschaft, was?"
Statt zu antworten summte Peter nur abwesend ‘An der Nordseeküste'
"Gut", behauptete Hinnack, "sieh nur zu, daß du es nicht vermasselst!"

Als sie an der Kurverwaltung angekommen waren befanden sich da schon eine Menge Leute, die versuchten unauffällig auszusehen, was ihnen mit ihren großen Eimern in der Hand leider überhaupt nicht glückte. Hinnack und Peter hatten sich zu Gisela gesellt, die mit einigen anderen Leuten die Vor- und Nachteile von rostigen, schweren, verbeulten Eiseneimern diskutierte. Wenige Minuten, nachdem die Uhr am Gebäude der Kurverwaltung zum Ärger der Anwohner 24 mal geläutet hatte, bemerkte Peter eine Litfaßsäule die Straße herunter huschen. Sie erregte überraschend wenig aufsehen. Als sie näher kam wurde sie freudig begrüßt: "Moin Nissen! Schicke Tarnung hast du da!"
Nissen verteilte Grog an alle, die gekommen waren. Litfaßsäulen scheinen enorm viel Stauraum zu haben. Als sich gerade alle etwas entspannt hatten und bei einem zweiten und dritten Grog ihre zukünftigen Heldentaten bei der Meerrückgewinnungsaktion beschrie-ben, kam plötzlich ein Polizeiwagen die Straße heruntergefahren.
Sofort wurden alle sehr still. Nissen schloß die Klappe seiner Litfaßsäule und versuchte unauffällig zu wirken. Einige versteckten ihre Eimer unter ihren Jacken und Pullovern und pfiffen leise und unbeteiligt vor sich hin.
Der Polizeiwagen verlangsamte sein Tempo und blieb neben der Litfaßsäule stehen. Der Fahrer kurbelte die Scheibe runter und klopfte höflich.
"Nissen? Bist du noch wach?"
"Äh, einen Moment bitte! Muß mir kurz was überziehen!" - Es rumorte kurz, bevor sich eine Klappe öffnete und Nissens wettergegerbtes Gesicht zum Vorschein kam. "Ah, der junge zugezogene Rudolf! Wie geht's denn so?"
"Nissen, ich lebe schon seit 35 Jahren hier!"
"Ja", antwortete Nissen fragend.
"Ja. Sag mal, was machen all die Leute hier? Hast du damit was zu tun?"
"Welche Leute? - Ach die Leute. Nun, ich vermute, daß die einen Spaziergang machen. Schönes Wetter heute, was Rudolf?"
Es war auffällig, daß alle ‘Spaziergänger' schon seit mindestens zwei Minuten angespannt den Atem anhielten.
"Das Wetter? Achso, ja, ja... Viel Spaß noch Leute! ‘Nacht Nissen!"
"Nacht, mein Junge!"
Die Polizisten ließen den Motor wieder an und fuhren weiter.
Die Menge liess kollektiv den Atem entweichen und japste erleichtert nach Luft. Peter nutzte die Gelegenheit, Gisela zu beatmen, obwohl sie das gar nicht nötig hatte.
"Nicht doch, vor all den Leuten..." - Sie versuchte ihn halbherzig abzuwehren. Hinnack setzte dem geflirte mit einem gezielten Hieb mit dem Ellenbogen in Peters Seite ein Ende.
"Reiß dich zusammen, Sohn! Ihr seid schließlich nicht verheiratet!"
"Nehmt Euch jetzt bitte alle zusammen, Leute! Dies ist schließlich eine geheime Operation", brüllte Nissen in ein Megaphon um die tuschelnde und japsende Menge wieder zu beruhigen. "Wir bilden jetzt eine Menschenkette bis über den Deich. Alle Eimer werden vorher beim Wasserhahn deponiert. Machen wir uns an die Arbeit, Leute!"

Zum Frühstück am nächsten Morgen gab es Matjes und Grog. Hinnack und Peter waren heute erst spät aufgestanden und waren beide noch etwas verkatert. Die Aktion lief nicht ganz so, wie es geplant war. Nachdem die Menschenkette endlich gebildet war und die ersten Eimer auf dem Weg über den Deich waren, fiel Nissen auf, daß keiner an Salz gedacht hatte. Es wäre natürlich ein Unding gewesen, Süßwasser ins Meer zu kippen, also verzogen sich alle wieder in den Dorfkrug, nicht ohne vorher die Beweismittel, d.h. das Süßwasser, zu vernichten. Peter hatte jetzt noch einen Wasserbauch und mußte alle zehn Minuten auf Klo gehen.
Aus diesem Grund war der Vorabend im Dorfkrug auch nicht ganz so lustig. Es konnte aus Platzmangel in der Blase kaum getrunken werden, die Schlange vor dem Klo war ungehörig lang und die allgemeine Stimmung war auf einem Tiefpunkt. Zu allem Unglück hatte Peter auch noch Gisela in dem Gedränge verloren.
Er stocherte lustlos in seinem Frühstück herum.
"Weißt du denn ihre Adresse, Papa?"
"Nein, Sohn, aber gehe doch einfach wieder beim Theater vorbei. Sie wird bestimmt da sein."
Peter seufzte. Nicht zum ersten mal an diesem Morgen. Hinnack schaute ihn mitleidig an. Es ist nicht leicht, seinem Sohn Ratschläge zum Thema Liebe zu geben, erst recht nicht, wenn dieser einige Jahre älter ist, als man selbst.
Dann klingelte das Telefon. Peter sprang sofort auf, wurde aber von Hinnack zurückgehalten. "Benehme dich, Sohn! Ich werde rangehen!"
Ungeduldig lauschte er, wie Hinnack durch den Flur schlurfte und das Telefon abnahm: "Jau", hörte er ihn sagen, und nach einiger Zeit wieder: "Peter, es ist für dich!"
Peter lächelte, stand auf und ging gemessenen Schrittes in Richtung Telefon. Er war sehr stolz, über seine ostfriesische Selbstbeherrschung.
Hinnack gab ihm den Hörer. Bevor er zurück in die Küche ging klopfte er ihm mitleidig auf die Schulter. Peter fragte sich, warum sein Vater so besorgt aussah.
Er hob den Hörer ans Ohr: "Hallo?"
"Paul", fragte sein Chef.
"Wer?" - Peter war verwirrt.
"Paul, bei uns hier tobt der Bär! Wir brauchen alle Leute die wir kriegen können. Heute Abend bist du wieder in der Redaktion, verstanden?"
"Nicht ganz", untertrieb Peter.
Er hörte, wie jemand am anderen Ende der Leitung mit den Zähnen knirschte.
"Also, dann noch einmal langsamer: Du bewegst deinen Arsch noch heute zurück nach Hamburg, verstanden Paul?" - Das war deutlich genug, um zu Paul durchzudringen.
"J-ja", stotterte er. Er hörte ein Klicken in der Leitung.
Paul legte den Hörer zurück auf die Gabel. Die Dinge waren auf einmal überhaupt nicht mehr in Ordnung.
Hinnack stand in der Küchentür und sah ihn mitleidig an.
"Das war's dann wohl", sagte Paul.

Viele Leute waren zum Bahnhof gekommen um ihn zu verabschieden. Paul stand mit gepackten Koffern da und fühlte sich hundeelend.
Er verabschiedete sich von seinen Freunden. Nissen hatte fast feuchte Augen.
"Jetzt machst du dich wieder auf den Weg, was, alter Freund?"
"Ich werde wiederkommen."
"Natürlich..." - Beide wußten, daß das nur ein frommes Versprechen war.
Er verabschiedete sich von den Anderen, die noch gekommen waren. So sehr er sich auch umsah, Gisela konnte er nirgends entdecken.
"Ich habe dir etwas Matjes eingepackt, Sohn" - Hinnack reichte ihm ein in Zeitungspapier eingewickeltes Paket. Paul las die Titelseite der Zeitung: "Bismarck abgesetzt!"
"Mann, Hinnack! Hoffentlich ist der Fisch frischer als die Zeitung!"
Sie lachten etwas beklemmt und umarmten sich kurz.
Paul erklomm die Stufen zum Abteil und sah noch einmal in die Runde. Weiter hinten sah er dann doch noch Gisela stehen. Sie sahen sich über all die Menschen hinweg tief in die Augen. Sie winkte zögernd.
Paul senkte seinen Blick. Er nahm seine Koffer und betrat den Zug. Die Tür schloß sich automatisch hinter ihm.

"Was für einen Artikel wird Paul wohl über uns schreiben", fragte Nissen. Seine Blicke versuchten das reflektierende Glas des Zugs zu durchdringen um Paul zu entdecken.
Hinnack seufzte. "Ich weiß es nicht. Das übliche? Idiotisches Volk, die Friesen, aber ganz nett."
"Ja, darauf wird es wohl hinauslaufen. Wie immer."
Der Zug setzte sich langsam in Bewegung.
"Was macht eigentlich dein Fusionsreaktor, Nissen?"
"Och, ich muß noch etwas daran arbeiten, aber bald dürfte ich meinen Fernseher damit dauerhaft betreiben können."
"Jetzt wo er weg ist, werde ich auch meine Forschungen für einen wasserbetriebenen Motor wieder aufnehmen können. Danach arbeiten wir dann weiter an der Widerlegung der Relativitätstheorie, ja?"
Die meisten Leute waren schon gegangen, obwohl der letzte Wagen des Zug den Bahnhof noch nicht einmal verlassen hatte, nur Nissen, Hinnack und Gisela waren noch geblieben.
"Ich werde Peter vermissen", seufzte Hinnack.
"Ich auch", bestätigte Nissen.
"Und ich erst" seufzte Gisela. Sie war jetzt doch zu ihnen rübergekommen. Sie sah etwas verheult aus.
Sie sahen den letzten beiden Wagen des Zuges hinterher, die soeben aus dem Bahnhof rollten.
Sie wollten sich eben zum Gehen wenden, als Hinnack eine Gestalt entdeckte, die hinter dem Gleis von dem der Zug eben abgefahren war, auf einem Koffer saß und eben ein großes, in Zeitungspapier eingewickeltes Paket öffnete und sich einen Matjes daraus nahm.
Gisela, Hinnack und Nissen starrten die Gestalt an.
"Paul", fragte Nissen. Der Mann reagierte nicht.
Sie sahen einander an.
"Peter", rief Gisela und stürzte über die Gleise auf ihn zu, umarmte ihn stürmisch und warf ihn mitsamt Koffer, um. Glücklich hielten sie sich in den Armen.
Nach einiger Zeit ließen sie voneinander ab und kamen zu Hinnack und Nissen rüber geschlendert, die mit offenem Mund dastanden.
"Was ist los mit dir, Papa, geht es Dir nicht gut?"
Hinnack öffnete und schloß seinen Mund einige Male ohne etwas zu sagen.
"Peter?"
"Hast du mein Zimmer für mich freigehalten? Es tut mir leid, daß ich so lange von Berlin hierher brauchte, aber die Welt da draußen ist so hektisch..."
Hinnack schluckte ein paarmal, dann hatte er sich wieder gefaßt.
"Laß uns einen Grog trinken gehen, Sohn!" - Gemeinsam schlenderten sie den Bahnsteig entlang.
"Gute Idee! Was gibt es morgen zum Frühstück? - Vielleicht möchte Gisela ja mitessen?"- Sie sahen einander verschwörerisch an.
"Nun..." - Er tat, als überlegte er - "Magst Du Matjes und Grog, Liebes?"
"Ich würde dafür morden", behauptete Gisela. Sie zog Peter näher an sich heran.
Nissen betrachtete die beiden kritisch.
"Hört mal, ihr müßt aber bald heiraten! Wilde Ehe wird hier nicht toleriert!"
"Du weißt, daß Eheschließung in einigen Ländern als Strafe für Ladendiebstahl gilt, Nissen", gab Peter zurück.
"Du und deine Erfahrungen in der großen, weiten Welt! Das hat dir ganz schön den Kopf verdreht! Du mußt mir unbedingt mehr davon erzählen!"

Das wäre der richtige Zeitpunkt für die Betrachtung eines malerischen Sonnenuntergang gewesen, aber da es erst kurz nach Mittag war, gingen sie statt dessen dem Dorfkrug entgegen.

Von Paul wurde nie wieder etwas gehört. Dafür war Peter Petersen nach Jahren in der Kriegsgefangenschaft wieder zurückgekehrt. Er sollte (nach amtlichen Dokumenten) sogar über 120 Jahre alt werden.


zAphod / h.l.v.s.- prod. mcmxcvii

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