Luftschlösser

Der Name sagt alles! - Hier gibt es das Neueste vom Neuen aus unserer Feder, wenn es auch alles noch aus dem letzten Jahrtausend ist... - Die jüngsten Kinder sind häufig genug auch des Schriftstellers liebste, weil beste, also: Enjoy!

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Luftschlösser

Beitragvon admin » 02.12.2003, 01:14

Für Antje

Der alte Mann warf den Kopf zurück und lachte zufrieden in den blauen Aprilhimmel. Keine Wolke war zu sehen - ideale Flugbedingungen! Glücklich bestieg er sein Flugzeug.
Wenige Minuten später steuerte er seine zweimotorige Cessna schon durch den Hamburger Luftraum.

"Der fliegt ziemlich niedrig, wenn Du mich fragst", sagte Silke und nickte in Richtung des Flugzeugs, welches nicht weit von ihrem Büro entfernt ihre Runden drehte.
"Bestimmt einer dieser Reklameflieger", knurrte ihr Kollege ohne aufzusehen.
"Tatsächlich! - Sieh mal, er schreibt etwas in den Himmel!"
"Kauft mehr Malzbier?" - Alex, Silkes Kollege, war für seinen Zynismus bekannt.
"Ich kann es nicht genau erkennen... - Es scheint ein ziemlich langer Text zu werden!"
Alex sah nun doch endlich von seinen Unterlagen auf.
"Ich glaube an Dich! - Heute ist Dein -" begann er zu lesen. "Heute ist Dein Tag," las Silke weiter, "... - Alex?"
Silke grinste ihn fröhlich an.
"Da hat es wohl jemand gut mit Dir gemeint, hm?" - Sie hatte Alex noch nie wirklich sprachlos erlebt. Bis heute, wie es schien. - "Hallo? Erde an Alex, hörst du mich?"
Der Angesprochene schien sich nur langsam von der Überraschung zu erholen.
"Mein Tag..." stammelte er. Dann schüttelte er den Kopf, wie um den Gedanken zu verscheuchen und beugte sich wieder über seine Arbeit.
Trotzdem bemerkte Silke ein leises Lächeln auf seinem Gesicht.
"Er sieht süß aus, wenn er lächelt", dachte Silke und sah ihn mit schief gelegtem Kopf und jetzt ebenfalls lächelnd an.
Nach einer Weile schien Alex den Blick der auf ihm ruhte zu bemerken. Er blickte verwirrt auf und erwiderte nach einigen Sekunden ihr Lächeln. Er schien kurz über etwas nachzudenken.
"Ähem, Silke... - Wollen wir nach der Arbeit vielleicht noch eine Kleinigkeit zusammen essen?"
Sie war verblüfft. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.
"Vergiss es", fügte er hastig, ihr Zögern falsch interpretierend, hinzu, "war nur so eine Idee..." - Er beugte sich wieder über seine Akten.
"Sehr gerne, Alex" sagte Silke leise.
Sie sahen sich in die Augen. Alex lächelte wieder.
Heute war sein Tag.

Der alte Mann landete sein Flugzeug, wie schon die letzten fast 25 Jahre, sicher und rollte mit seiner Maschine zu seinem kleinen Hangar.
"Uh-oh", dachte er. "Das Empfangskomitee erwartet mich schon..."
Sein Sohn stand mit hochrotem Kopf vor der Maschine und gestikulierte sich schon mal für seine Standpauke warm.
"Herr Jeremias Stefan, hatten wir nicht darüber gesprochen, daß Du dieses verrückte Geld-aus-dem-Fenster-hinauswerfen in Zukunft bleiben läßt", rief Karl, sein Sohn, wütend, als er Anstalten machte, aus der Maschine zu klettern.
"Sohn, das verstehst du einfach nicht. Könntest Du mir bitte kurz helfen?"
Karl dachte nicht daran, also mußte der alte Mann wohl oder übel alleine, seinen Pilotenkoffer umständlich balancierend, aus dem Cockpit klettern.
"Ich soll das nicht verstehen!? - Natürlich verstehe ich das nicht! Wer ist dieser Alex? Sag' mir wenigstens, daß du eine Person kennst, die Alex heißt, und der du heute einen besonders guten Tag wünschen wolltest!" - der Alte beobachtete still, wie sein Sohn sich langsam in Fahrt redete, und nutzte dessen Monolog, um langsam wieder zu Atem zu kommen. Das Fliegen strengte ihn immer sehr an und ließ ihn spüren, daß er nicht mehr der Jüngste war - "Du weißt genau, was deine Eskapaden, deine blöden Weltverbesserungs-Phantasien uns kosten, nicht wahr? Und wer bezahlt das alles? - Die Firma! Das ist unser Geld, lieber Vater, das du da verpulverst!"
"Es ist mein Geld, Sohn", wandte der Alte leise ein, "ich bin noch nicht tot, weißt du?"
Karl ruderte weiter mit den Armen, während er nach den richtigen Worten suchte.
"Es ist dein Geld, ja. Aber wie es aussieht, verlierst du langsam etwas die Kontrolle, lieber Vater! Was bezweckst du bloß mit diesen Aktionen?"
"Ich möchte Menschen glücklich machen", wollte Jeremias sagen, "ich möchte ihnen das Gefühl geben, daß sie nicht allein auf dieser Welt sind, daß jemand an sie denkt, ich möchte einen Unterschied machen!", aber statt dessen blickte er nur traurig in die Augen seines Sohnes und wußte, daß er nicht verstehen würde, also schwieg er, drehte sich um und ging einfach.

Im Tower des kleinen Flughafens standen zwei Fluglotsen an der Scheibe und beobachteten die Beiden.
"Der arme Alte... - Jetzt kriegt er schon wieder Ärger!"
"Ja, aber ich glaube auch, daß er nicht alle Tassen im Schrank hat..."
Sein Kollege wandte sich ihm zu und blickte ernst. "Sicher, es ist nicht gerade normal was er da macht, aber..."
"'Nicht gerade normal'? - Er verschwendet sein ganzes Geld! Wie häufig war er schon oben und hat Nachrichten geschrieben?"
"...vielleicht zwei Dutzend Mal?"
"Zwei Dutzend Mal, und du sagst immer noch 'nicht gerade normal'? Also, ich denke, sein Sohn sollte ihn besser wegsperren, bevor der Alte noch mehr Geld in den Wind pustet..."
Der Andere erwiderte darauf nichts. Eigentlich hatte sein Kollege ja recht, aber... - vor zwei Wochen hatte der Alte 'an Tim gedacht'... - Sein Vorname war Tim. Es hatte ihm sehr, sehr gut getan.
Er räusperte sich laut und wechselte das Thema: "Noch Kaffee?"
"Ist der Papst katholisch?"
Sie gingen weiter ihrer Arbeit nach.

Jeremias Stefan stieg auch in der folgenden Woche fast jeden Tag auf.
Die Presse wußte nicht, was von ihm zu halten war. Von einem nüchternen Standpunkt aus gesehen, was er definitiv verrückt, aber kaum jemand konnte sich seiner Magie entziehen.
Er gehörte fast zum Alltag der Menschen in der Stadt.
Sein Sohn Karl wütete nach jedem Flug, drohte sogar, ihn für unzurechnungsfähig erklären zu lassen, aber das beeindruckte den Alten nicht.
Er flog weiter.

Karl wartete mit dem Amtsarzt vor dem Hangar.
"Sehen sie? - er tut es schon wieder! Er ist eindeutig nicht zurechnungsfähig! Darf so ein Mensch überhaupt noch fliegen? Wer weiß, was da alles passieren könnte!?"
"Beruhigen sie sich doch, Herr Stefan! - Ich werde ihren Vater sofort untersuchen und mit ihm sprechen, sobald er gelandet ist. Dann wird sich zeigen, ob er geistig noch ganz gesund ist."
Karl spuckte verächtlich aus und sah dann in den Himmel.
"Mal sehen... - Wen grüßt er denn heute?"
"Ich glaube an Dich", las der Amtsarzt laut. "Heute ist Dein Tag - ...Karl!?"
Karl Stefan zuckte zusammen, als hätte ihn ein Blitz getroffen. Er öffnete und schloss seinen Mund einige Male, ohne das ein Geräusch herauskam. Dann zischte er: "Das ändert gar nichts! Er ist verrückt!"
Der Amtsarzt sah ihn fast mitleidig an, sagte aber nichts.

Das Flugzeug setzte zur Landung an. Wie im Lehrbuch setzte die Maschine auf, rollte aus und blieb dann aber am Ende der Rollbahn einfach stehen. Der Motor lief weiter.
Die beiden wartenden Männer sahen sich fragend an. Dann stieg in Karl eine fürchterliche Vorahnung auf.
"Kommen sie! Schnell!!" schrie er und stürmte auf die Maschine zu.
Der Amtsarzt zögerte nur kurz. Gemeinsam rannten sie auf die Maschine zu, die immer noch bewegungslos auf dem Rollfeld stand.
Karl erreichte sie als erster und riss - nicht auf die immer noch laufenden Motoren achtend - die Tür auf um nach seinem Vater zu sehen.
Er lebte - gerade noch...
Jeremias Stefan hatte am Steuer seiner Cessna einen Herzinfarkt gehabt. Er lag von diesem Tag an im Koma...


Karl Stefan sah nachdenklich schweigend auf die Lichter der Grossstadt, die sich unter ihm ausbreitete. Er hatte es weit gebracht, seit sein Vater ins Koma gefallen war.
Fünf Jahre waren vergangen, ohne daß Jeremias erwacht war, fünf Jahre in denen Karl das Kapital der Firma verdoppelt und die Geschäfte ins Ausland ausgedehnt hatte, bis nach New York, wo er jetzt in einem Penthouse in einem der höchsten Häuser der Stadt an einer langweiligen Party teilnahm und sich mit teuren Alkoholika einiger Nervenzellen entledigte.
Er trank zuviel in letzter Zeit.
Und er aß zuviel in letzter Zeit.
Seufzend wandte er sich von dem Panorama ab und machte sich daran, dem Botschafter von Saudi-Arabien weiter Honig ums Maul zu schmieren...


Weitere drei Jahre vergingen, ohne das Jeremias erwachte. Karl Stefan war auf der Leiter des Erfolges höher und höher geklettert.
Seine Firma - so nannte er sie jetzt - war ein Multinationales Unternehmen geworden. Sein Rat wurde von den Oberhäuptern verschiedener Regierungen nicht nur gehört, sondern auch gesucht. Sein Vermögen wuchs und wuchs.
Eigentlich war es natürlich nicht sein Vermögen. Es gehörte immer noch seinem Vater. Karl dachte selten an ihn und hatte ihn seit dem er im Koma lag noch nie besucht.
Er war überzeugt, daß das in Ordnung sei: seiner Meinung nach waren vorher nicht gut miteinander ausgekommen, warum sollte das Koma daran also etwas ändern?
Karl wußte besseres mit seiner Zeit anzufangen. Er war ständig darum bemüht gewesen, das Geld, das sein Vater durch diese lächerlichen Flugkunststückchen aus dem Fenster geworfen hatte, wieder zurück zu verdienen, das Kapital zu mehren. Er wollte alles richtig machen!
Das gelang ihm auch - zumindest geschäftlich! Ansonsten... - irgend etwas fehlte, und er kam nicht dahinter, was es war...
Seit einigen Monaten war er wieder geschieden. Gut, so konnte er sich immerhin wieder aufs Geschäft konzentrieren, und mußte sich nicht mit der lästigen Frau abgeben, die sowieso nur hinter seinem Geld her war.
Er würde das Geld nicht einfach so verschleudern! - Niemals! Er würde es beschützen und mehren, Werte ansammeln, Sicherheit, und... [- ja, und was?]

Es war kurz nachdem er seinen ersten schlimmen Kreislaufzusammenbruch hatte, daß er endlich daran dachte, seinen Vater im Krankenhaus besuchte.
Acht Jahre lag er nun schon in seinem Bett, und war nicht wieder zu Bewußtsein gekommen. Dreimal am Tag wurde er gewendet, einmal am Tag gewaschen. Seine Nahrung erhielt er über einen Schlauch.
Karl setzte sich an sein Bett, nahm die Hand des Alten und senkte den Kopf. Er war sein einziger Verwandter, trotzdem hatte er acht Jahre gebraucht, um hierher zu finden.
Sein eigener Arzt hatte gesagt, wenn er nicht kürzer träte, die Finger vom Alkohol ließe, und sich endlich etwas gesünder ernährte, dann wäre es bald um ihn geschehen. Aber nicht dieses Mal, dachte Karl. Der Anfall war nur ein Schuss vor den Bug.
Er strich seinem Vater die Haare aus dem Gesicht, auf dem ein friedlicher Ausdruck lag.
"Ich habe alles versucht, Vater, und ich habe überall gesucht - verrate du mir, wie ich mein Glück finden kann, alter Mann! - Ich weiß nicht mehr weiter."
Natürlich antwortete Jeremias nicht. Karl seufzte und machte sich daran, dass Zimmer zu verlassen. An der Tür blieb er stehen und sah noch einmal seinen Vater an. Gut sah er aus. Die Jahre waren an ihm nahezu spurlos vorüber gegangen. Dann sah er an sich selbst herunter und entdeckte seinen dicken Bauch, der ihm die Sicht auf seine Füße versperrte, eine geballte Fleisch gewordene Unzufriedenheit, die ihm um die Hüften hing. Sein Gesicht fühlte sich an wie altes Pergament. Er hatte Durst, aber war es nicht noch etwas früh dafür? Erschüttert merkte er, daß er verbrauchter war, als sein eigener Vater.
Er schüttelte den Kopf und ging.

Das Haus seines Vaters war offensichtlich lange nicht besucht, geschweige denn aufgeräumt worden. Von wem denn auch?
Am Anfang war Karl noch häufig hier gewesen, hatte als Alibi die Blumen gegossen, die nun schon lange verwelkt waren, aber in Wirklichkeit hatte er nur Augen für die Firmenpapiere gehabt, die der Alte hier aufbewahrt hatte. Schnell war er fündig geworden, und seitdem war er hier auch nicht wieder aufgetaucht...
Suchend durchstreifte er die Wohnung, nicht genau wissend, was er eigentlich suchte. Er strich über die eingestaubten Regale, sah hier und dort auf ein Photo, auf dem meistens er in jungen Jahren zusammen mit seinem Vater und seiner Mutter, als diese noch lebte, abgebildet waren.
Die Zimmer waren voller Staub und alter, schaler Luft. Selbst das Licht, daß durch die nur halbgeschlossenen Vorhänge hereinfiel, sah alt aus. Nur träge schien es seinen Weg durch die Luft nehmen zu können, und zerfloß dann gleich nach dem Aufprall auf dem dreckigen Teppich, der einmal weiß und prächtig gewesen war. Karl plagten Gewissensbisse. Er hätte sich besser um das Haus kümmern sollen, dachte Karl. Was wäre, wenn Jeremias aufgewacht wäre und nach Hause hätte gehen wollen? - In diesem Dreckstall hätte es ihm bestimmt nicht gefallen.
Er biss sich auf die Unterlippe. Sobald er wieder in seinem Büro war, würde er ein Reinigungsunternehmen vorbei schicken...
Nein! er schüttelte den Kopf, kein Reinigungsunternehmen. er würde sich ein paar Tage frei nehmen, und das selber erledigen. Niemand sollte in der Vergangenheit seines Vaters aufräumen, außer dessen Sohn! - Er grübelte: es war schon lange her, daß er sich selbst als Sohn von Jeremias bezeichnet hatte. Vielleicht auch schon viel zu lange...
Die Gedanken durch heftiges Kopfschütteln vertreibend machte er sich in Richtung Eingangstür auf den Weg. Er würde später wiederkommen. Bestimmt.

Vor der Tür hatte sich ein riesiger Haufen Post angesammelt. Niemand hatte nach der Post gesehen. Das war wohl eine der vernachlässigten Aufgaben des Sohnes. Als Karl den Haufen mit dem Fuß zur Seite schob, brachte der dadurch aufgewirbelte Staub ihn zum Husten. Ein einziger Brief auf dem Stapel war noch nicht verstaubt. - Bekommt der Alte nach all der Zeit, die er schon im Koma liegt, etwa immer noch Post?
Neugierig hob er den Brief auf und betrachtete ihn genauer. Er war vom Flughafen, an dem sein Vater sein Flugzeug stehen hatte. Karl hatte gar nicht mehr an die Maschine gedacht.
Nach Jeremias Herzanfall hatte er sie selbst in den Hangar zurückgebracht und den dann abgeschlossen. Seit dem hatte er nicht mehr an sie gedacht.
Karl selbst war schon ewig nicht mehr geflogen, obwohl er einen Flugschein besaß.
Der Staub brachte ihn rechtzeitig zum Husten, bevor sich schwere Gedanken auf sein Gemüt legen konnten. Dieser Ort ist voller verstaubter Erinnerungen, dachte er und verließ eilig und immer noch hustend, das Haus seines Vaters.
Und es ist voller Gedanken und Träume, sagte eine leise Stimme in seinem Hinterkopf.

Schwester Susanne stapfte fröhlich pfeifend den Flur entlang.
Waschtag, Waschtag, Waschtag, summte sie in einem harmonielosen Klangbrei vor sich hin, der jenen Leuten zu eigen ist, die ihren ganzen Alltag vertonen und mit selbst gesummter Musik untermalen. Susanne vertonte ihre Arbeit gerne. Es gab ihr mehr Schwung, wie sie fand. Und ihr Lieblingspatient fand es auch toll, meinte sie, ignorierte aber dabei, daß der im Koma lag und sich nicht wehren konnte.
Sie bog in das Zimmer von Jeremias Stefan.
"Guten Moooooorgen", flötete sie. "Sie werden nicht glauben was seit vorgestern alles passiert ist!!"
Jeremias Stefan schwieg dazu. Schwester Susanne beobachtete aufmerksam seine Züge.
"Ich weiß, was sie jetzt denken, Herr Stefan! Ich freue mich aber, dass sie es für sich behalten und mich erstmal ausreden lassen, denn es ist wirklich ganz anders als sie denken!" - sie hatte eine Schüssel mit warmen Wasser und Seife herbeigeschafft und machte sich daran, ihren sich im Koma befindlichen Patienten zu waschen.
"Sie erinnern sich doch sicher an den netten Pfleger von der Station '3.Ost', nicht wahr Herr Stefan!? - Also, der hat doch als ich ihm das letzte Mal begegnete tatsächlich..."
Jeremias Stefan hörte geduldig zu.

Das Tor des kleinen Hangars klemmte erst noch ein kleines bißchen, ließ sich aber öffnen. Karl trat ein.
Er wußte nicht genau, wie er hierher gekommen war. Eigentlich war das Büro sein Ziel gewesen. Zögernd sah er sich um. Es sah noch alles genauso aus, wie er es verlassen hatte. Nein, es gab kleine Unterschiede. Jemand war hier gewesen. Er öffnete das Cockpit und zwängte seinen Bauch durch die schmale Tür, hinein in das innere der Cessna. Das letzte Mal, als er auf dem Sitz des Piloten Platz genommen hatte, war er ohne Probleme mit Jeremias Sitzeinstellung klargekommen. Heute klemmte er beinahe grotesk zwischen Sitz und Knüppel. Es dauerte einige schreckliche Sekunden, bis er endlich den Sitz so justiert hatte, daß er wieder normal atmen konnte.
Er schaltete die Instrumente an. Karl entdeckte zu seiner Verwunderung, dass die Zweimotorige tatsächlich seit Jeremias letzter Landung wieder betankt worden war!
Langsam, ohne genau darüber nachzudenken, drehte Karl den Zündschlüssel weiter. Er schloss die Kabinentür, öffnete das kleine Fenster und rief, wie er es gelernt hatte, laut "Propellerbereich räumen!" - Dann startete er die Motoren.

"Sinnlos", dachte Franziska. "Langweilig."
Sie seufzte. Seit zwei Jahren machte sie den Job jetzt, und er machte ihr, milde gesagt, keinen Spaß. Wenn ihre Position nur ein klein wenig besser wäre, dann könnte sie etwas ausrichten, aber es nahm sie in ihrer Firma keiner für voll!
Wieder seufzte sie. Vor ihrem Fenster konnte sie ein kleines Flugzeug beobachten, welches ziemlich dicht über die Stadt flog. "Der hat sich wohl verflogen", dachte sie. Das Flugzeug begann jetzt, mit farbigen Rauchfahnen etwas in den Himmel zu schreiben...
"Ich glaube an Dich! - Heute ist..." - sie blinzelte ungläubig - "Heute ist Dein Tag, Franziska!?"
Es konnte sich nicht um einen Irrtum handeln. Bei einem so langen Namen wie 'Franziska' war ein Irrtum sozusagen ausgeschlossen.
"Jemand glaubt an mich, hm?" - Franziska kam unsicher auf die Beine. "Dann sollte ich diesen jemand besser nicht enttäuschen!"
Franziska entnahm ihrer Schublade einige Strategiepapiere, an denen sie in ihrer Freizeit gearbeitet hatte, und machte sich - sehr entschlossen - auf zu ihrem Chef. Der gute Mann würde heute noch einiges dazulernen.
Über der Stadt verblasste und verwehte die Botschaft langsam im Himmel.

"...Ich bin mir nicht sicher, aber diesen Blick hätten sie sehen sollen, Herr Stefan!" - Schwester Susanne wusch gerade die Füße des Angesprochenen. Als sie die Fußunterseite wusch, zuckte das Bein kurz, aber heftig.
Ungläubig sah Susanne an ihrem Patienten hoch. Wahrscheinlich war das nur ein Reflex. Jeremias Stefan lag da wie immer.
Unsicher räusperte sie sich.
"Äh, na, sie wissen schon..." - der Klang ihrer eigenen Stimme stellte ihre Selbstsicherheit wieder her. "Jedenfalls hatte er an diesem Tag nach Dienstschluss..."

Der Farbtank war größer, als Karl es gedacht hatte. Jeremias mußte sich eine Spezialanfertigung eingebaut haben.
Karl wendete und machte sich bereit für einen neuen Anflug.
Juchu! hörte er sich zu seiner eigenen Überraschung flüstern.

"...Und warum das Ganze!? Ich arbeite doch nur für die Bank! Wo bleibt mein Leben?" - Mathias machte eine ausladende Geste, die seinen Zweifel verdeutlichte...
"Aber", versuchte sein Kollege zu erläutern, "du tust es doch für deine Familie, oder? - Und auch für Dich!"
Sie saßen auf dem Dach eines Mehrfamilienhauses, was für Dachdecker, die sie nun mal waren, nicht ganz so ungewöhnlich ist, wie es für andere Menschen wäre. Sie hatten gerade Pause.
"Ja... - Trotzdem zweifle ich manchmal, verstehst du? Gerade eben habe ich meinen Gesellen gemacht, und schon soll das Leben vorbei sein?"
Sie schwiegen.
Ein Flugzeug kreiste über der Stadt und schrieb etwas in den Himmel.
Mathias bewegte die Lippen beim Lesen.
"- Mein Tag...", stammelte Mathias.
"Da hat aber jemand Vertrauen in dich, Junge!"
Mathias schluckte. - "...Und ich habe auch schon eine Idee, was ich mit diesem Vertrauen anstellen werde", erklärte er. "Ich werde heute Abend mit meiner Frau darüber sprechen! Ich habe da so eine Idee... Wenn sie mitmacht, könnte es klappen!"


"Ich glaube an Dich! - Heute ist Dein Tag, Kirsten!"

"Ich glaube an Dich! - Heute ist Dein Tag, Michael!"

"Ich glaube an Dich! - Heute ist Dein Tag, Antje!"

"Ich glaube an Dich! - Heute ist Dein Tag, Bastian!"

"Ich glaube an Dich! - Heute ist Dein Tag, Mike!"

"Ich glaube an Dich! - Heute ist Dein Tag, Isabelle!"

"Ich glaube an D-" - die Farbe war alle.

Karl machte sich automatisch auf den Weg zurück zum Flughafen. Seit langem hatte er sich nicht mehr so gut gefühlt. Er spürte, wie Leben durch seine Adern pulsierte - echtes, heißes, flüssiges Leben!
Wo war das solange geblieben? War es schon immer dagewesen? Kam es hier aus dem Flugzeug? Aus der Luft? Aus der Arbeit, die er hier und jetzt machte?
Er kannte die Antworten tief in seinem Herzen. Karl wußte, daß er sich nur rechtzeitig die richtigen Fragen hätte stellen müssen.
Er landete die Maschine sicher, obwohl er seit Jahren nicht geflogen war. Dann informierte er die Firma, die die Farbe verkaufte, daß er dringend Nachschub brauchte. Er sollte sich gedulden und bei der Maschine warten, in weniger als einer Stunde würden sie liefern. Die Maschine mußte ja auch sowieso noch betankt werden.
"Schön, daß die Familie Stefan wieder im Geschäft ist", sagte der Mann von der Lieferfirma über Funk.
Karl nahm den Kopfhörer ab und lehnte sich - glücklich wie ewig nicht mehr - in seinem Sitz zurück, warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend und lange - sehr lange!
Er hatte viel nachzuholen.

"...Und vielleicht sollte ich ihn heute Abend mal fragen? Er wird sicher nein sagen... - ich bin ja auch nicht mehr die Jüngste, und so, und er wünscht sich sicher was Besseres..." - verlegen rührte Schwester Susanne mit dem Finger im Waschwasser und beobachtete die Kreise im Wasser. Sie blieb gerne etwas länger bei Jeremias. Er war wirklich ein guter Zuhörer.
Sie seufzte.
"Wissen sie", unterbrach eine kaum hörbare Stimme die Stille, der das Reden deutlich schwer fiel, "sie sollten ihn fragen! - Ich glaube an sie Schwester Susanne! Heute ist ihr Tag!"
Erschrocken sah Susanne auf.
Jeremias Stefan hatte soeben das erste Mal seit acht Jahren wieder gesprochen. Sie schluckte.
Der alte Mann lachte leise.
"Es ist ihr Tag! - Jeder Tag ist ihr Tag! Wenn sie ihn nur nutzen, Schwester..."

Karl brachte das Flugzeug wieder auf die Startbahn und beschleunigte.
"...Wenn man ihn nur nutzt", rief er und lachte glücklich.

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