Problembewältigung

Die ersten ernstzunehmenden Geschichten von Pat und nils. Sie sind nicht mehr die Neuesten, und wer sie noch nicht kennt, sollte dringend mal reinsehen! - Die Print-Ausgaben sind gesuchte Raritäten geworden! Gesamtauflage der Print-Ausgabe: 60 Stück

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Problembewältigung

Beitragvon admin » 02.12.2003, 00:00

"Ich kann wirklich nichts dafür, ehrlich..." - Der aufgebracht wirkende alte Mann starrte mich mit wilden Augen an. Seine Gesichtszüge erzählten von seiner Verzweiflung und sein Blick verriet, daß er Verständnis von mir erwartete. Große Erklärungen schienen nicht seine Art zu sein. Was für ihn zählte, war das Ergebnis, und das lag mehr im Verborgenen. Er faltete seine Hände als wolle er beten und hoffe, daß es eine Macht gab, die ihn erhören würde.
Ich blinzelte, etwas verwirrt.
Als er das merkte, brach er abrupt ab. "Es tut mir leid. Ich wollte sie keineswegs in Verlegenheit bringen. ‘Ist nur eine dumme Angewohnheit von mir, bitte entschuldigen sie!"
Er stimmte mich etwas nachdenklich. Ich hätte niemals mit soetwas gerechnet und selbst wenn, dann bestimmt nicht damit, daß es ausgerechnet mir passieren würde. Nun war ich in dieser Situation. Nervös blätterte ich in meinem Notizbuch und stellte mir selbst unentwegt Fragen, die ich bisher nie gewagt hatte auszusprechen. Ich überlegte, was zu tun sei. Sollte ich diesen Mann aufbauen, oder erwartete er einfach nur, daß ich ihn zu verstehen versuchte?
"Und was passierte dann?" - Ich versuchte das Gespräch wieder aufzunehmen.
"Ich hatte plötzlich keinen Einfluß mehr auf die Geschehnisse. Menschen neigen zu extremen Handlungen und genau das hatte ich unterschätzt. Plötzlich fühlte ich mich ... machtlos!"
Abwechselnd händeringend und wild gestikulierend setzte er seinen Bericht fort, einen Bericht, den es nur mir vergönnt war, ihn jemals zu hören.
Ich maß mir nicht an, ein Urteil darüber fällen zu können, was er erzählte, ich lauschte lediglich seinen Worten und versuchte die Umstände einzuschätzen, in denen er sich befand.
Er wirkte aufgebraucht und mutlos. Es mußte einen Weg geben ihm zu helfen. Deshalb war er schließlich hier. Das er ausgerechnet auf mich traf, halte ich weniger für Vorsehung, als für bloßen Zufall.
"Können sie sich das Vorstellen? Man ahnt nichts Böses und predigt, daß es toll wäre, würden alle etwas netter zueinander sein, und plötzlich hat man mehrere Millionen verrückter Anhänger, die sich für Auserwählte halten und jedem Andersdenkenden das Leben zur Hölle machen."
Traurig griff er nach seinem Bier und prostete mir zu.
"Na ja", begann ich, " verstehen kann ich ihr Problem schon, obwohl ich eine derartige Erfahrung noch nicht machen mußte."
In meiner Kehle hatte sich eine staubige Trockenheit gebildet und so leerte ich mein Bier in einem Zug und bestellte mir gleich noch eins.
"Das Schlimmste an der Sache ist, daß ich für alles verantwortlich gemacht werde, sogar die auslösenden Befehle gegeben haben soll. So ein Schnickschnack. Ich war zum Beispiel ewig nicht mehr in Italien."
Wehmütig blickte er an die Decke, ganz so, als wolle er mir zu verstehen geben, daß es einen Ort gäbe, an dem er sich wirklich wohl gefühlt hatte, der aber im Moment für ihn unerreichbar zu sein schien.
"Ich kann mir gut vorstellen, wie sie sich fühlen. Es muß für sie die Hölle gewesen sein, die ganze Aufklärung zu betreiben und das alles, nur um zu sehen, daß das, was sie damit erreichten, so ziemlich das Gegenteil ihres eigentlichen Ziels war. Sie können sich damit trösten, daß sie es immerhin versucht haben. Allein der Versuch zählt doch schon etwas. Wahrer Glaube entsteht im Herzen und nicht im Kopf. Was ich damit sagen will, ist, daß bei 95% aller Menschen einfach ein Interpretationsfehler vorliegt."
Er nickte bedächtig und dachte über meine Worte nach.
Das Gespräch konnte nicht als sehr temporeich oder gar hitzig bezeichnet werden. Es handelt sich um eine gestenreiche Unterhaltung, die sehr langsam vonstatten ging und bei der die Interpretation des Gesagten eine wichtige Rolle spielte.
Ich bekam mein Bier und schaute es an, als wäre es meine große Liebe. Für einen kurzen Augenblick schien es auch so zu sein. Ich nahm einen großen Schluck und stellte das Glas langsam wieder auf den Tisch. "Und jetzt", fragte er mich, "was soll ich nur tun? Es ist alles so viel schwieriger geworden. Ich werde auch nicht jünger und...", die letzten Worte sprach er nur zögernd aus, "...und auch mutloser. Ich zweifle schon an mir selbst..."
Aha, dachte ich, da lag also das Problem: Bei Anzeichen von Schwierigkeiten macht er lieber eine volle 180°-Wende, als die Sache bis zum Ende durchzuziehen.
"Wenn sie so wenig Vertrauen in sich selbst haben, warum haben sie sich die ganze Mühe dann überhaupt gemacht", fragte ich ihn neugierig.
"Weil ich es für richtig hielt. Ich wußte einfach nicht, daß soetwas dabei herauskommen würde. Es widerspricht einfach allem, was ich jemals gesagt und getan habe!"
"Sie meinen also, falsch verstanden worden zu sein?"
"Nicht nur das! - Ich werde auch grundsätzlich und komplett falsch eingeschätzt! Man hält mich gütig, aber auch jähzornig und wenn irgendwo irgendwem etwas Schlechtes widerfährt und ich nichts dagegen tue, dann gelte ich sofort als gleichgültig, aber das bin ich nicht! Ich bin nicht das Monster, als das ich in dem Buch beschrieben werde!"
Noch einmal konnte ich einen Blick in seine Augen werfen. Diesmal sah ich mehr darin: Nicht nur mein Spiegelbild und seine Verzweiflung, sondern auch viele Freunde und Bekannte, den ‘Mann von der Straße' und noch viele Menschen mehr - Ich hatte das Gefühl durch das Fenster des Universums zu sehen.
"Sie schauen etwas beängstigt, mein Freund?"
Er hatte mich ertappt. Vor wenigen Augenblicken hatte ich dieses Gespräch noch verhältnismäßig gelassen gesehen, aber dieser Blick in seine Augen löste bei mir einen Schwall verschiedener, undefinierbarer Gefühle aus.
Sollte ich nun etwa plötzlich an die Geringfügigkeit meiner Existenz glauben müßen? - Ich hoffte nicht! Es schien als warte er immer noch auf eine Antwort von mir. Ich tat ihm den Gefallen.
"Ich rate ihnen folgendes: Machen sie sich nicht so viele Gedanken. Es ist zu spät, jetzt noch viel zu ändern, Täten sie das, so könnte das Ergebnis noch schlimmer aussehen, als nach dem letzten mal. Mein Tip wäre: Bewahren sie die Ruhe!"
Er entspannte sich sichtlich und schien wieder etwas gelassener zu sein. Möglicherweise hatte er diese Antwort erhofft. "Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, daß sie wohl recht haben. Es wäre wohl wirklich das Beste ..."
Wir redeten diesen Abend noch sehr lange. Meist ging es um wichtige historischer Begebenheiten. Es war sehr interessant, alles mal aus einem anderen Blickwinkel erzählt zu bekommen
Nachdem wir uns am frühen Morgen des nächsten Tages trennten sah ich ihn nie wieder.
Ich denke noch oft an diesen Tag zurück, den Tag, an dem ich Gott in der Kneipe traf...

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