Wortlos

Pats Teil unserer populären FIREWALL!-Edition mit Kurzgeschichten. Sehr populär, also könnte es fast gut sein! =O) Überzeuge Dich einfach selbst! Gesamtauflage der Print-Ausgabe: etwa 100 Stück

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Wortlos

Beitragvon admin » 02.12.2003, 00:25

Scheinbar orientierungslos stand er in dem großen Raum und wirkte, als versuchte er, seine Sinne zu ordnen. Auf ihm ruhten die Blicke entsetzter Gäste, die ebenfalls zu Besuch im Museum waren. Die Menschen um ihn herum verhielten sich wie aufgeregte Bienen in einer Wabe und schreckten geschlossen zurück, als der Mann, den jetzt alle angafften, das Gleichgewicht verlor und unsicher im Raum umher stolperte. Sie hatten Angst vor ihm.
Natürlich taten alle, als seien sie über die Situation erhaben, tarnten damit aber nur ihre eigene Unsicherheit.
Ihre Anteilnahme am merkwürdigen Verhalten des Mannes beschränkte sich auf verächtliche Blicke und verängstigte Zurückhaltung. Sie schienen mehr zufällig hier zu sein und nahmen genausoviel Anteil an der ausgestellten Kunst, als schauten sie beim Abendessen fern.
Der Mann, um den die anderen Menschen sich mehr zufällig gescharrt hatten, begann nun sich im Kreis zu drehen. Dabei hob er die Arme über den Kopf, seine Lippen bewegten sich und erzeugten dabei einen merkwürdigen Singsang, den keiner verstehen konnte.
Seine Gesichtszüge zeigten dem Beobachter, daß sie es mit jemanden zu tun hatten, den nichts mehr in der Welt erschüttern konnte. Sein Gesichtsausdruck war hart, aber friedfertig. Er wirkte wie das Überbleibsel einer alten, indianischen Kultur. Seine gebräunte Haut und seine durch und durch grauen Haare ließen ihn beinahe wie einen Medizinmann aussehen. Erst auf den zweiten Blick war ersichtlich, daß der Mann europäischer Abstammung zu sein schien.
Der Mann senkte seine Arme und ließ dabei die weiten Falten seines Mantels sanft hin und her wiegen. Das, und die Wirkung der Bilder in diesem Raum, erzeugten eine Gänsehaut bei den Betrachtern.
Der Raum beherbergte eine beinahe gespenstische Sammlung von Gemälden verschiedenster Künstler. Es mußte sich hier um die größte Sammlung vieldeutiger Bilder handeln, die je zusammengestellt worden war. Teilweise waren sie sehr düster, mit abstrakten Figuren in noch abstrakteren Positionen, aber es waren auch buntere Bilder dabei, die einem Menschen nicht nur Freude machten, sondern außerdem Werte wie Hoffnung und Liebe vermittelten. Der Kurator schien bewußt auf die Wirkung so vieler Einflüsse gesetzt zu haben, um in jedem Betrachter Gefühle freizusetzen.
Jetzt lenkte der Mann die ganze Aufmerksamkeit der Menge auf sich. Die Barrieren in den Köpfen der Anwesenden bauten sich nach und nach ab und er zog sie langsam in seinen Bann.
Teils war es Neugier, die sie anzog, aber auch das Abnorme an diesem Mann schien sie zu reizen. Alle waren für einige Sekunden aus ihrer normalen Bahn geworfen und ließen ihre Blicke auf dem Mann ruhen. Er schien ganz im Rausch der verschiedenen Eindrücke, voll aufgegangen in seinen Gefühlswallungen. Sein Singsang drückte dies durch das durch die verschiedensten Tonlagen aus, während seine Stimme immer wieder die Geschwindigkeit wechselte.
Für einen kurzen Moment hielt er inne. Sein Blick glitt von den umstehenden Menschen ab und blieb dann an einem bestimmten Bild hängen. Es waren inzwischen an die zwanzig Menschen in dem Raum und sie wandten ihren Blick jetzt ebenfalls von dem Mann ab, um zu sehen, was seine Aufmerksamkeit erregte. Viele waren enttäuscht. Das Bild, auf dem der Blick des Mannes ruhte, entpuppte sich als lavaartiges Knäul bunter Stränge, die sich in der Mitte des Bildes trafen. Ein Bild ohne offensichtliche Aussagekraft, ohne geometrische Figuren oder gar echtem Motiv, welches dem normalen Besucher hätte auf die Sprünge helfen können.
Da war nichts, außer diesem bunten Strudel aus Farben und Fäden. Es handelte sich um ein Bild, das sich besonders abhob von allen übrigen Bildern. Zwar war die Mischung an Künstlern, Bildern und Stilrichtungen in diesem Raum sehr weit gestreut, trotzdem passte dieses Bild nicht richtig dazu.
Der Mann senkte seinen Blick und verharrte in seinen Bewegungen. Er stellte eine unsägliche Traurigkeit zur Schau. Die übrigen Besucher waren nur noch verwirrter. Welche magischen Botschaften mochte das Bild enthalten, daß es diesen Mann dazu brachte, plötzlich so in sich zu gehen.
Inzwischen begannen die ersten, ob aus Unsicherheit oder Unwissenheit, sich über ihn lustig zu machen.
Dann, nach einiger Zeit fingen die Leute endlich an, sich mit dem Bild zu beschäftigen, daß er weiterhin anstarrte.
Plötzlich hob der Mann seinen Kopf wieder und lächelte freudig. Kurz darauf machte er auf dem Absatz kehrt und bewegte sich auf direktem Weg in Richtung Ausgang.
Für die verbliebenen Menschen hatte das unerwartete Spektakel, dessen Inhalt keiner von ihnen andeutungsweise deuten konnte, ein jähes Ende genommen und hinterließ eine große Leere im Raum und in ihren Köpfen.
Der Mann hatte das Ende des Raumes erreicht und war kurz ihn durch die Tür zu verlassen, als ein junges Mädchen endlich als einzige den Mut aufbrachte, ihn zu fragen, was er da getan habe.
"Ich suchte", gab er leise zurück. Dann schaute er ihr tief in die Augen und flüsterte: "Wenn man aufhört zu suchen, wird man leider nie etwas finden!"
Das Mädchen nickte verstehend. Der Unbekannte lächelte sie kurz an und verließ dann mit eiligen Schritten den Raum.

© Twoflower / h.l.v.s. 1997

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