Feierabendverkehr

Die ersten ernstzunehmenden Geschichten von Pat und nils. Sie sind nicht mehr die Neuesten, und wer sie noch nicht kennt, sollte dringend mal reinsehen! - Die Print-Ausgaben sind gesuchte Raritäten geworden! Gesamtauflage der Print-Ausgabe: 60 Stück

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Feierabendverkehr

Beitragvon admin » 02.12.2003, 00:19

Ragnarök war mal wieder in Grundsatzdiskussionsstimmung.
"Guck dir doch diese Bonzen an! Die Dritten Welt leidet, nur damit er seine Bonzenkarre fahren kann!"
Wütende Blitze schossen aus seinen Augen, durchdrangen die Scheibe des Mercedes mit dem wir uns durch den zähen Feierabendverkehr quälten und trafen einen Anzugträger in einem BMW, der unvorsichtigerweise neben uns an der Ampel stand. Hätte der Mann gewußt, was ihn heute auf der Heimfahrt erwartete, so wäre er sicher lieber im Büro geblieben. Jetzt war es zu spät und er wand sich sichtlich unter Ragnarök gift- und feuerspeienden Blicken.
Die Ampel sprang auf grün und ich trat aus humanitären Gründen schnell aufs Gas. Ich kann Männer einfach nicht weinen sehen.
"Ist doch so", fing Ragnarök wieder an,"an dem schmutzigen Geld, mit dem er dieses Auto bezahlt hat, klebt doch noch das Blut der Armen dieser Welt!"
Aufgebracht ruderte er während er sprach mit den Armen und brachte es fertig jedes Wort mit Ausrufezeichen auszusprechen. Im Schritttempo krochen wir weiter in unserem Auto, einer Bonzenkarre der Firma Mercedes Benz, durch den Feierabendverkehr, während Ragnarök in seinen Bart brummelt und zwischendurch immer wieder den automatischen Fensteröffner betätigte und drohend seine Fäuste in Richtung seiner neugefundenen Feinde schüttelte. - Er gefiel mir gleich viel besser so!
Noch vor einer halben Stunde hockte er stumpf vor dem Computer und versuchte eine intellektuelle Verarbeitung seiner heutigen Arbeit, obwohl sie so einfach war, das selbst ein Stopschild, mit so einer Arbeit betraut, sich bei dieser Arbeit intellektuell unterfordert und auf das Tiefste gekränkt gefühlt hätte.
So war es viel besser. Der Stumpfsinn war gewichen. Auf die an dessen Stelle gerückte Aggression hätte ich zwar auch gerne verzichtet, aber immerhin war sie eine deutliche Reaktion auf Ragnaröks´ Umwelt, die ich acht Stunden lang nicht bei ihm feststellen konnte.
"Ich sehe es genau vor mir: Arme Teppichknüpfer, die nicht mal mehr ein bißchen Entgelt für ihre schwere Arbeit bekommen, ausgebeutet von allen, verarmt, mittellos und hungrig!"
Ein tiefer, schwerer Seufzer ergoß sich bis in den Fond des Wagens und erschwerte das Atmen.
Ich sah, wie es in seinem Kopf arbeitete und beschloß, ihn nicht dabei zu stören. Ich konzentrierte mich wieder auf den Verkehr.
"Gandhi!" rief Ragnarök aus. Das hatte ich nun davon! Bitte nicht Gandhi!
Ragnarök schien beschlossen zu haben, mir die ganze schonungslose Wahrheit mitzuteilen: "Nimm zum Beispiel Gandhi! Der Kerl war so abgemagert, der hatte bestimmt ewig nichts zu essen bekommen! Ich habe da mal diese grauenvolle Reportage über ihn gesehen. Gandhi ist so ein Kerl mit Sandalen, ein Inder, total abgemagert und er muß ein Kassengestell tragen und die Engländer wollen ihn ständig überfallen und er darf den Bus nicht benutzen und läuft zu Fuß durch das ganze Land"- Ragnarök schnappte nun kurz vor dem Erstickungstod endlich doch noch mal nach Luft - "Die armen Inder!!", heulte er daraufhin empört und begann dann wieder hasserfüllt Bonzen und Ausbeuter in ihren Bonzenkarren anzupöbeln.
Zwei Kreuzungen später wurden wir von einem großen 7er BMW geschnitten - ein sehr großes Auto mit verdunkelten Heckscheiben und einer Autotelefonantenne auf dem Dach. Er hielt kurze Zeit später vor uns an einer roten Ampel.
Ragnarök hatte sich gerade von den letzten obszönen Rache-für-Gandhi-Gesten erholt, mit denen er dem Fahrer eines Porsche 911 den Feierabend vermiest hatte und sah nun den Zeitpunkt für eine weitere Schimpftirade gekommen. Empört schwang er seinen Oberkörper aus dem Fenster und brüllte unanständige Sachen über Ausbeutung, Sandalen und den hungrigen Gandhi in Richtung des BMW und unterstrich das ganze durch ein Wurfgeschoß, bestehend aus einer leeren Papiertüte von Feinkost-Meyer, auf die er ein reaktionäres "Rache für Indien" geschrieben hatte.
Was ich nun erzähle hat sich, ich schwöre es, genau so zugetragen:
Von dem Moment an, an dem das Wurfgeschoß Ragnaröks Hand verließ, sehe ich die Szene noch wie in Zeitlupe vor mir. Das Geschoß verließ die Hand und machte sich langsam auf den Weg durch die Luft auf den BMW zu. In diesem Moment öffnete sich die Tür des Wagens. Das Geschoß näherte sich dem Zenit seiner Flugbahn. Die Tür war nun ganz geöffnet. Die Tüte traf ihr Ziel. Ein "Freiheit für Indien!"-Schrei entrann Ragnaröks Kehle. Ein Fuß, ein Bein, der Rest des Körpers erschien langsam aus dem Inneren des BMW. Das Geschoß prallte von der Kofferaumklappe des Wagens ab. Der Kopf des ausgestiegenen Insassen war nun zu sehen. Ragnaröks Kampfschrei verklang.
Der Mann trug einen Turban. Ragnaröks Kiefer hakte sich mit einem deutlichen -Klick!- aus. Der Mann hatte eindeutig indische Gesichtzüge. Neben mir ertönte das Geräusch eines Kiefers, dessen Fall durch irgend etwas gebremst wurde. Der Inder zog ruhig sein Jackett aus und legt es in den Kofferraum. Bevor er wieder in seinen Wagen einsteigt faltete er kurz die Hände, lächelte und verbeugte sich höflich in unsere Richtung.
Die Ampel sprang kurz darauf auf grün. Der BMW mit dem Inder am Steuer fuhr weiter.
Wir standen noch zwei volle Grünperioden lang an der Ampel und lachten Tränen. Die anderen Autofahrer hupten und schüttelten Fäuste in unsere Richtung, was uns nur noch mehr zum Lachen brachte.
Es passiert schließlich auch nicht alle Tage, daß man auf Till Eulenspiegel trifft...

(k) by zAphod / h.l.v.s.-prod. mcmxcvi

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